Vergangenen Samstag hatte ich das Vergnügen, Crimes of the Future im Kino zu sehen. Obendrein unverhofft als Sondervorstellung, zur Dreingabe mit live übertragenem Interview mit Regisseur David Cronenberg: der erste Film des mittlerweile 79-jährigen Kanadiers seit acht Jahren. Und um es direkt festzustellen: altersmilde ist er nicht geworden. Sagen wir es, wie’s ist: obschon der Film – wie nachfolgend besprochen – kein „Horror“ im engeren Sinne ist, braucht man doch starke Nerven; wenn man der Schockbildern auf Zigarettenschachteln wegen wirklich gar nicht in Versuchung gerät, mit dem Rauchen anzufangen, ist man mit Crimes of the Future definitiv am falschen Film. Gleichwohl hat man es fraglos mit einem herrlich unkonventionellen Werk zu tun – und in Sachen Düster-Sci-Fi mit einer der hervorragendsten Produktionen des Jahres.
Für mein Empfinden allemal der vielleicht beste Cronenberg-Streifen – nicht nur doch auch, da der Name Cronenberg zwar synonym für körperliches Grauen steht, welches in früheren Titeln wie eXistenZ oder Naked Lunch auch stets äußerst ikonisch, allerdings ungeachtet dessen eher in Nebenrollen präsent war. Hier nun geht er in die Vollen.
Der Film spielt in einer nicht näher definierten Zukunft. Eventuell infolge allgemeiner Umweltverschmutzung (wie das erste Bild des Films, ein am Strand spielendes Kind vor der Kulisse eines gekenterten Tankers, lakonisch nahelegt) gehören körperliche Mutationen zur Normalität. Parallel zur Entwicklung teilweise organischer technischer Hilfsmittel (wie eines aus Knochen und Zähnen bestehenden „Frühstücks-Stuhls“, der einen beim Essen schüttelt und schaukelt, sodass es einer raschen Verdauung zuträglich ist) gehören kleinere Mutationen zur Normalität. Den Leuten wachsen neue Organe; die meisten haben jegliches Schmerzempfinden verloren; auch Infektionen fürchtet niemand mehr. Infolgedessen sind mächtig schmerzhafte Live-Performances von Künstler:innen, die noch etwas fühlen können, zur populärsten Kunstform avanciert: die geistigen Erben Marina Abramovićs besteigen den Thron blasser Popstars wie Taylor Swift (es bleibt dem Publikum überlassen, ob Crimes of the Future als Dystopie im engeren Sinne zu betrachten ist). Ein solches Künstler-Duo bilden Saul Tenser und Caprice (erwartbar famos gespielt von Viggo Mortensen und Léa Seydoux). Derweil ermittelt Saul parallel noch als Undercover-Agent für eine im Werden begriffene Behörde, die sich körperlichen Veränderungen widmet, welche zwar noch nicht verboten sind, es aber womöglich bald sein werden – da die Regierungen sich zunehmend der Gefahren wie Allmachtspotenziale bewusst werden, die es mit sich bringt, die Evolution der Menschheit als aktiven, gegebenenfalls manipulierbaren Prozess zu begreifen…
„Body Horror“
David Cronenberg wird häufig als Begründer und/oder Visionär des Subgenres „Body Horror“ gehandelt; gemeint sind Filme – und sonstige Erzählmedien, man denke an Romane wie The Brotherhood of Mutilation, Videospiele wie Scorn und Tormentum – in denen der Darstellung abstoßender körperlicher Deformation eine große Rolle beikommt. Sie wissen schon, grässliche Geschwulste, Eingeweide auf Abwegen, zuckende Sehnen und schlängelnde Tentakel. Die Portion Extrawurst für Hartgesottene. Schon Cronenbergs 1970 gedrehter, gleichfalls mit Crimes of the Future betitelter, Experimentalfilm widmet sich exzessiv dergleichen. Nicht zuletzt Julia Ducournaus (von Altmeister Cronenberg enthusiastisch rezipierter) Cannes-Liebling Titane kann mit Fug und Recht dem Genre zugeordnet werden.
Bemerkenswert ist, dass Cronenberg selbst dem Begriff „Body Horror“ eher ablehnend gegenübersteht. Durchaus zurecht: „Horror“ impliziert, dass es dabei (primär) um Angst und Schrecken gehe, Konfrontation und Überwindung, die kathartische Mitternachtsfahrt mit der Geisterbahn. Dies aber geht am Wesentlichen Punkt vorbei: die meisten Werke, denen gern das „Body Horror“-Ettikett verpasst wird, scheinen weniger vom Wunsch beseelt, mit dem Gezeigten reinen Tisch zu machen, als vielmehr von morbider Faszination.

Wie Stephen King in seinem Sachbuch Danse Macabre feststellt, geht es in Horrorstücken meist darum, eben das zu zelebrieren, was je angegriffen und bedroht wird. Im simpelsten Fall bedeutet dies: ein fantasieloser Axtmörder hackt attraktive Teenagerinnen in Stücke, die eigentlich bloß eine wilde Party im Walde feiern wollten.
Im Allgemeinen wird mit dergleichen eine Zielgruppe adressiert, die eher geneigt ist, sich mit den Jugendlichen zu identifizieren als mit dem finsteren Maskenmann; gewissermaßen zeichnen Storys dieses Schlags das Negativ einer erfolgreichen Sause mit Techno, Flaschendrehen und nach Dosenbier schmeckender Knutscherei im Halbdunkel hinter der Hütte. Wie generell bei Handlungen, die schlecht ausgehen, besteht das eigentliche Vergnügen in der Freiheit, sich auszumalen, wie alles stattdessen hätte „gut“ verlaufen können: was meist sehr viel befriedigender ausfällt, als die verglichen mit der individuellen Fantasie zumeist enttäuschende Ausformulierung des „Best Case Szenarios“. Genau aus diesem Grunde hüpft der Killer just in dem Moment aus dem Schrank, in dem die Cheerleaderin ihren BH auszieht und der Quarterback das letzte Bier wegstellt, um panisch an seinem Hosenstall herumzufummeln; Erotik ist das vielleicht plumpste Beispiel für viele Fälle, in denen Andeuten mehr Gewicht als Zeigen hat (aus dem gleichen Grund macht James Bond i.d.R. das Licht aus, bevor Verrenkungen und wildes Stöhnen im Namen ihrer gewesenen Majestät losgehen). Natürlich trifft dies nicht allein zu, wenn’s um Paarung geht: Aragorn wird König von Gondor – schön und gut. Aber was hätte nicht alles aus Schottland werden können, wenn Macbeth nicht auf seine machthungrige Frau gehört hätte?! Caesars Staatsstreich und Ermordung sind weit spannender als weise Senatoren, die über Jahrhunderte geschickt regieren – aber nicht, weil man WIRKLICH lieber Krieg als Frieden hätte. Gewiss, auch Grauen und Gewalt wirken in vielen Fällen stärker, wenn sie nur angedeutet werden – was sich jedoch nicht ausschließt: die Stadt ist gerettet, der Sharktopus besiegt – aber die Andeutung nach den Credits, dass das Ungetüm Nachwuchs hinterlassen hat oder gar selbst zurückkehren wird, macht das Glück der Protagonist:innen erst ganz genießbar.
„Body Horror“ geht es jedoch meist NICHT darum, eine Projektionsfläche für Alternativen zum Geschehen zu bieten: sondern um Faszination für die Sache selbst. Die ekelhafte Fleisch-Pistole in Cronenbergs eXistenZ soll nicht etwa dazu einladen, sich auszumalen, wie viel schöner es wäre, wenn der Protagonist stattdessen einen guten alten Colt bekäme. Eher geht es a) um die masochistische Freude am Aushalten (wie bei Leistungssport geht es um die Befriedigung, durchgehalten – und z.B. bei der Fleisch-Pistole nicht weggesehen zu haben) und b) das Gedankenspiel der Grenzüberschreitung (nach klassischen Hollywood-Sehgewohnheiten markiert der Gebrauch eines Instruments wie der besagten Fleisch-Pistole eindeutig den Schurken des Films; wie würde es sich anfühlen, mal selbst ein Bisschen Schurke zu sein?). Oder auch, c), am spannendsten, um die GRAUZONE: das Gezeigte geht klar zu weit, man könnte sich unschwer eine diametral entgegengesetzte Alternative vorstellen, die vielleicht etwas bieder aber auch weniger eklig wäre (z.B. Science-Fiction, die nach Star Strek statt nach Giger und Beksiński schmeckt). Spannend ist nicht das klare Negativ des Idealen sondern die weit subtilere Frage, wie weit man vielleicht doch in Richtung des Gezeigten denken sollte? In der dargestellten Extremform fällt es nicht schwer, die Sache als Perversion abzuhaken, natürlich, doch sich partiell auf die perverse Fantasie einzulassen, macht erst möglich, überhaupt darüber nachzudenken, welche weniger extremen Ansätze in ihrer Richtung sich vielleicht davon ableiten lassen.

Wir wollen selbstredend nicht verallgemeinern. Martyrs oder Cronenbergs The Fly sind durchaus „Body Horror“ und zugleich Horror im Sinne Stephen Kings; wenigstens Jeff Goldblum/Seth Brundle und Geena Davis/Veronica Quaife in The Fly mag man doch alles gute für ihre Beziehung und die praktische Teleport-Maschine wünschen … das mit der Fliege im Teleporter ist gemeines Pech!
„Body Horror“ v.s. Marvel-Mainstream
In diesem Zusammenhang spannend ist, dass Cronenberg selbst betont, indem er ähnliche „Body Horror“-Motive zeige wie in seinen früheren Filmen, gehe es ihm nicht (oder wenigstens nicht in erster Linie) darum, durch Zitation an diese zu erinnern, sondern darum, neue Facetten derselben Themen zu beleuchten. Man muss keinen der älteren Cronenberg-Filme gesehen haben, um Crimes of the Future zu verstehen. Es geht nicht darum, das Jetzt als Negativ für ein idealisiertes Früher zu setzen (statt eben für ein alternatives Jetzt wie in herkömmlichem Horror) bzw. im Umkehrschluss eine glorreiche Vergangenheit zu beschwören und damit die Gegenwart abzuwerten, sondern um das konkrete Jetzt als solches.
Damit grenzt Cronenberg sich fundamental von abgeschmackter Hypertextualität ab, wie sie diverse aktuelle Mainstream-Franchises kennzeichnet, allen voran die Superhelden-Filme aus dem Schoß des Marvel-Molochs. Indem jene konsequent auf frühere Teile der Reihe verweisen, wird Wiedererkennen zum Surrogat dafür, an sich reizvolle frische Erfahrungen zu machen. „Ah, der Hulk, den kenne ich!“ – „Ha, den Witz habe ich verstanden, weil ich damals Avengers geguckt habe!“
Dabei wird zunehmend irrelevant, überhaupt noch gute Filme zu produzieren oder je welche produziert zu haben, auf die verwiesen werden kann: das erfüllende Moment besteht fürs Publikum immer mehr im Erleben der Pseudo-Kompetenz, als treue Kinogänger:in alle eingewobenen Anspielungen mitzubekommen und sich somit den indirekt imaginierten „Anderen“ überlegen fühlen zu können, die keine so großartigen Cineast:innen sind, dass sie sogar wissen, warum Iron Man und Captain America inzwischen ein zwiespältiges Verhältnis haben. Keine Frage, bei vielen vermeintlich intellektuellen Arthouse-Werken greift das selbe Prinzip, bloß eben für eine Zielgruppe, die stolz ist, 2001: A Space Odyssey geguckt zu haben statt Ant-Man (und keine Frage, auch bei Non-Fiction geht es allzu oft bloß um das Gefühl, belesen und damit toll zu sein, weil man z.B. den nötigen Wortschatz besitzt, um Adorno zu lesen ohne zu googeln – eben das nötige Halbwissen … „Ich bin schlau, ich weiß, wer der Hulk ist“ – „Ich bin schlau, ich weiß, wer Deleuze ist und was in der antiken Mythologie passiert!“; Stolz auf die eigene Biographie – so oder so der Gegenentwurf zu vorwärts gerichteter Neugierde, Interesse am Weltgeschehen … Rückwärtsgewandheit als Kehrseite von Identitätspolitik … die Autoplay-Funktion als bequemer Ersatz dafür, Initiative zu zeigen … ach, Sie wissen schon!).
Um zum Punkt zu kommen: im Sinne der umrissenen Negativ-der Alternative-Logik (für Blut-Hegel: die Dialektik des Splatters…) sind z.B. die Marvel-Filme brutal konservativ: durch das postmoderne Eingeständnis, das alles Gute schon einmal da gewesen ist und man sich daher zwangsläufig mit dessen Zitation und etwas Blödelei begnügen muss (wenn Sie nur irgend können, vermeiden Sie, sich Thor: Love and Thunder anzusehen!!!). Cronenbergs Filme interessieren sich für das gezeigte Jetzt – und da es sich bei Filmen wie Crimes of the Future um Science-Fiction handelt, sogar für die Zukunft! In einer Zeit, in welcher der Mainstream sich ebenso intentionell wie träge im Strudel endloser Wiederholung dreht, ist dies äußerst erfrischend: auch wenn der Modus Operandi zum Verlassen ausgetretener Pfade die meta-perversen Gedankenspiele des „Body Horror“ sind…

Noch simpler, fundamentaler: den Kern vieler Superheldengeschichten (besonders, wenn man selbstreflexive Wunderwerke wie Watchmen, Super oder Jeeg Robot außer acht lässt) bilden Selbstoptimierung, (verlogen ironisierter) Idealismus und schlichte Macht gekreuzt mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit – gipfelnd in der Zelebrierung gesunder Geister in gesunden Körpern (das klingt für sie nun doch unangemessen faschistoid? Sehen Sie sich doch einmal die Black Panther-Filme an, hören sie hin, wenn die heiteren Superheld:innen aus dem reaktionären Dschungel-Staat Vakanda laut „Vakanda über alles!“ brüllen, oder Thor: Love and Thunder, dessen Resümee nach der Rettung entführter Kinder darin besteht, Kinder fortan einfach von klein auf an der Waffe zu trainieren, damit sie schwerer zu entführen und später zudem bessere Soldat:innen sind, seien Sie wachsam usw. …). Sixpacks und pralle Bizepse als Sinnbilder für brave Strebsamkeit; das gab’s auch schon bei Leni Riefenstahl und es wird in seinem faulen Kern auch nicht besser, wenn ein ach-so-lustiger, nach Michael-„Bully“-Herbig-Rezept schwuler Steinmensch und eine Menge Schauspieler:innen aus unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen dabei sind (was, wie für zurechnungsfähige Leser:innen obligatorisch sein dürfte, natürlich per se nichts Schlechtes ist, im Gegenteil – bloß sollte man angesichts dessen dennoch kritisch sein, was sonst erzählt wird, im Endeffekt gar umso mehr).
„Body Horror“ widmet sich ganz gegenteilig der Zerstörung scheinbar perfekter Körper: dem Hinterfragen, was Perfektion eigentlich bedeutet und ob es so etwas überhaupt gibt, geben kann. Statt den eigenen Körper – bewusst oder unbewusst – mit den (wohlwollend ausgeleuchteten) Körpern von Chadwick Boseman, Ryan Reynolds oder Zoe Saldana zu vergleichen, um in Schuldgefühlen zu ertrinken und/oder reumütig ein überteuertes Abo fürs Fitnessstudio abzuschließen, vergleicht man ihn mit dem Bizarren, welches jedoch seinerseits nicht einfach zum abschreckenden Beispiel gezeigt sondern in befreiender Ambivalenz wie eine ernsthafte Option zur Diskussion gestellt wird.

Bei der Zerstückelung besonders hübscher Körper in herkömmlichem Horror geht es, genau wie bei Marvel, um das Heraufbeschwören eines Ideals (und/oder Schadenfreude). Werden stattdessen durchschnittliche bis eindeutig hässliche Leiber Werkstück von Werwölfen, Kannibalen, Zombies und wer-weiß-was-noch, geht es vielmehr um Akzeptanz. Bei der offen un/gesunden Faszination von gutem „Body Horror“ geht es um die ergebnisoffene Frage, WAS in welchem Maß zu akzeptieren ist.
Der Mut, über die Zukunft nachzudenken
Zurück zur Zukunft; während der nun allmählich zur Genüge gegeißelte stereotype Superhelden-Film einerseits Nostalgie für Früheres evoziert und die Fähigkeit zum Empfinden dieser Nostalgie zugleich schmeichlerisch als Ausdruck der Fachkunde wahrer Kennerschaft verkauft, um andererseits vermittels des Mummenschanzes lebensferner Ideale Schuldgefühle zu wecken und die (individuelle, körperliche) Gegenwart als defizitär dastehen zu lassen, sprich: nahelegt, dass der Geist über den Leib zu triumphieren habe, bzw. dass in diesem Sinne der Geist der Kinogänger:in stark und willens sei, sich nun aber besser nicht mit kritischen Gedanken befassen solle, sondern damit, das lasche Fleisch auf Vordermann zu bringen – während er, der Superhelden-Film, also Selbstakzeptanz zernagt und mehr oder minder gegenstandslose Sehnsucht schürt – stellt „Body Horror“ in Filmen wie Crimes of the Future fundamental infrage, was – im Fall von Körpern und auch allgemein – jetzt gerade ist und bisher war, um zu unverdrossenen Spekulationen einzuladen, was – nicht per se, nicht nach universellem Ideal, sondern spezifisch, im Einzelfal – sein könnte und zu wünschen wäre. Beziehungsweise: es geht (in einer reichlich verqueren Weise) darum, unvoreingenommen nach vorn zu schauen.
Interessant ist dabei die von Beginn an (siehe oben: der lecke Tanker…) mitschwingende Thematik des Klimawandels. Dieser wird im Film zu keinem Zeitpunkt explizit(er) thematisiert, allerdings ist dies in einem dieser Tage gedrehten und halbwegs ernst gemeinten Film über die Zukunft wohl auch kaum nötig. Im Allgemeinen, nicht bloß im Kino oszilliert die Rezeption der Erderwärmung in vielen Fällen zwischen Leugnung, Ignoranz und Ablenkung auf der einen und Fatalismus, Verzweiflung und Kompromisslosigkeit auf der anderen Seite. Nicht, dass nicht eine davon zu bevorzugen wäre, doch an dieser Stelle ist das nicht der Punkt: in Crimes of the Future ist weder das eine noch das andere der Fall.
Zunächst liegt dies daran, dass – abgesehen von den körperlichen Mutationen, die zusätzlich aus der sehr spezifischen Perspektive der auf sie fokussierten Performance-Subkultur thematisiert werden – wenig über die Prämissen des Settings zu erfahren ist. Gewiss, alles wirkt grell, heiß, die Gebäude uralt und latent verfallen: allerdings wurde der Film in der Altstadt von Athen gedreht und es bleibt offen, ob das entsprechende Flair eine „mediterran“ anmutende globale Zukunft repräsentiert oder lediglich einen bestimmten, tatsächlich mediterranen Ort: z.B. die Altstadt von Athen. Wenn man bedenkt, dass Cronenberg mit Crimes of the Future ein 20 Jahre altes Drehbuch (aus eigener Feder), dessen Handlung ursprünglich in Toronto spielen sollte, 2021 in Athen verfilmt hat, mag man das als Indiz für Ersteres werten (selbst wenn dies bloß im Lauf der Produktion in den Fokus gerückt sein sollte, aposteriori, falls die massiv gestiegenen Fördergelder seitens der griechischen Regierung für die Realisierung internationaler Produktionen in Griechenland und speziell Athen, zunächst ausschlaggebend gewesen sein sollte: da die Dreharbeiten zufällig mit den entsetzlichen Waldbränden nahe Athens zusammenfielen und diese maßgeblich erschwerten).

Abgesehen davon, dass mit der Vernebelung dessen, was eigentlich Kante ist, auch vieles ausgeklammert wird, was womöglich noch deprimierender wäre als die Sache mir dem Schmerzempfinden und den funktionslosen neuen Organen, hat der Film doch bei aller Düsternis von Beginn an etwas nicht ganz Greifbares, Vibrierendes an sich. Eine gespannte Erregung, die über den – unleugbar mit-bedienten – blanken Ekel-Fetisch weit hinausgeht. Das Gefühl einer Offenbahrung oder unmittelbar bevorstehenden Veränderung. Und angesichts des in unseren Tagen omnipräsenten Cocktails aus begründetem Pessimismus einerseits und vorgeblich ironisch gemeintem – oder auch einfach ganz unverhohlen bitterem – Pseudo-Pseudo-Fatalismus (der Spuren von Kitsch enthalten kann) wirkt bereits das befreiend, hoffnungsspendend.
Die vielstimmige Apokalyptik (allemal ich hätte vor zehn Jahren die Behauptung für absurd gehalten, dass zehn Jahre später ernst zu nehmend große Teile der Bevölkerung aufgrund hahnebüchener Verschwörungstheorien wissenschaftliche Fakten leugnen würden – aber auch, dass aufgrund dieser Fakten seriöse Nachrichtenformate Überschriften á la „Wie sich die Menschheit noch retten kann“ wählen und die Sache – zurecht – ernst meinen könnten) macht schwer, sich vorzustellen, dass irgendetwas relevantes nicht in den nächsten zehn oder 20 Jahren entschieden wird: dass dann nicht entweder alles zu spät ist (weil z.B. Kipppunkte bei der Erderwärmung überschritten werden) oder wir in einem wunderbaren Utopia leben, weil überraschend plötzlich alle einsehen, dass diejenigen, die auf jenes hoffen, eben einfach klüger sind als die anderen und darum generell recht haben – man denke an unerträglich seichte Schlaf-Gut-Fantasien wie Damon Gameaus 2040, in dem selbiger bestens frisiert seine quiekenden Kinder vor der Kamera schwenkt und gönnerhaft mit Bio-Bauern fachsimpelt. Bereits der Gedanke, dass die Geschichte der Menschheit nicht auf die eine oder andere Weise kurz vor dem Ende steht, sondern dass auch in einer – offensichtlich nicht allzu nahen – Zukunft noch wichtige Entscheidungen anstehen: dass es Gefahren gibt und damit umgekehrt auch nach wie vor etwas, dass zu verteidigen dies ggf. wert ist.
Unnötig zu erwähnen, dass Crimes of the Future, wenngleich – eventuell, in einem gewissen Licht – keine eigentliche Dystopie, so doch auch offenkundig keine Utopie ist. Bestenfalls schwingt subtil ein je nach Gesinnung EHER positives Motiv mit, das so auch schon, dort stärker ausgeprägt, in eXistenZ zu finden war. Die Vision einer Zukunft, in welcher der wissenschaftliche Fortschritt derart weit geht, dass für die Ausübung hochspezialisierter Berufe keine Infrastruktur mehr vonnöten ist, wie sie Konzerne, Großstädte und Massenbewegungen bieten. Eine postindustrielle Gesellschaft, die allemal ihren High-Tech-Handwerker:innen potenziell ermöglicht, lokal und selbstständig zu existieren, ohne (im Kleinen) auf Wachstum und die Schaffung größerer Strukturen angewiesen zu sein; ein klarer Bruch zum Film Noir der 1940er und 50er, dem eine gewisse Obsession für freiberufliche Typen – i.d.R. Privatdetektive – zu bescheinigen ist, welche als existenzialistische Helden darum kämpfen, ihren eigenen Weg zu gehen, Individualisten zu sein, ohne im engeren Sinne nach Macht zu streben, und die damit offensichtlich gegen Windmühlen kämpfen, eventuell gar – das macht den masochistischen Faktor des Film Noir aus, der teils auch als „männliches Melodrama“ bezeichnet wird – erst recht um der tragischen Romantik einer aussichtslosen Sache wegen. In eXistenZ wird eine Industrie von Videospiele-Entwickler:innen beschrieben, die als autarke kleine Startups im Grunde bequem von überall aus arbeiten können: weshalb die fragliche Medienindustrie sich dezentral im ländlichen Raum ansiedelt (jedenfalls bezogen auf die Games-Branche heute nicht unbedingt Science-Fiction, wie ich nach mehrjährigem entsprechendem Selbstversuch bestätigen kann). In Crimes of the Future beschränkt dieser Aspekt sich auf zwei Technikerinnen, die für die Wartung der organischen Apparate zuständig sind (der erwähnte „Frühstücks-Stuhls“ und ähnliche Monstrositäten); als bewanderte Ridley-Scott-Zuschauer:in mag man, als von der diese Gerätschaften bereitstellenden Firma die Rede ist, zunächst ein leviqathanisches Imperium wie die Tyrell Corporation aus Blade Runner oder Weyland-Yutani aus Alien erwarten: stattdessen schließt man Bekanntschaft mit zwei heiteren Facharbeiterinnen, die ihr Geschäft in einer Schrauberscheune am Stadtrand ausüben. Allerdings wird auch dieser Aspekt, und das trägt zur Integrität des Films bei, nicht überbewertet, nicht plakativ als das Heilsversprechen einer dank kleinteiliger Arbeitswelten (und der damit ebenfalls oft einhergehenden noch weiter getriebenen Atomisierung der Gesellschaften) wundersam ökologischen Designer-Ökonomie mit ausgeklammerter Konsumgüterproduktion.

Gewiss, zunächst und vor allem ist Crimes of the Future ein haarsträubend grotesker Film – womit er jedoch als Gegenwarts- und Zukunftsanalyse wiederum an Wert gewinnt; der Film weist starke Parallelen zu verschiedenen Werken des New Weird Genres auf, insbesondere zu den Romanen von Jeff VanderMeer, im Speziellen Borne. Wie VanderMeer konstatiert, ist narrative Absurdität unerlässlich, um die Absurdität der aktuellen globalisierten Welt greifbar zu machen, sie zu kontern und nicht davon gelähmt zu werden (was sich, wie weiter unten angesprochen, auch den Protagonist:innen des Films bald als Gedanke aufdrängt).
Die entscheidende Parallele zum New Weird Genre ist jedoch die Hybridisierung von Science-Fiction (bzw. Science-Fiction-Horror, um noch mehr Bindestriche ins Spiel zu bringen) und Fantasy. Crimes of the Future behandelt mit der körperlichen Weiterentwicklung der Menschheit aktuelle, äußerst relevante Themen, die aktuell und äußerst relevant sind, obwohl sie nach Science-Fiction klingen – und neben Klimawandel, Krieg und Wirtschaftschaos lachhaft nebensächlich zu sein scheinen (sich mit dem vermeintlich Nebensächlichen zu befassen und somit performativ dafür zu plädieren, dass dieses noch immer relevant ist, bricht abermals im zuvor besprochenen Sinne mit dem Paradigma des deterministischen Himmel-oder-Hölle-Kategorismus). Derweil erfolgt diese Auseinandersetzung im Rahmen der nicht weiter begründeten, letztlich „magischen“ Prämisse, dass die Menschen nun eben mutieren (und dies im Lauf der sich entfaltenden Filmhandlung auch noch in Weisen tun werden, die allemal Darwin, Mendel und Richard Dawkins veranlassen würden, kopfschüttelnd das Kino zu verlassen).
Crimes of the Future ist kein auf naturwissenschaftliche Plausibilität bedachtes „Hard Science-Fiction“-Szenario, welches entworfen wird, um die Inszenierung eines (sonst je nach Einzelfall eventuell eher mäßig interessanten) Kommentars zur gesellschaftlichen Gegenwart als Science-Fiction zu rechtfertigen: es ist kein Film wie High-Life, kein Werk wie The Handmaid’s Tale und so weiter. Vielmehr ist der Film das genaue Gegenteil. Wie Cronenberg auch im erwähnten Live-Interview konsequent betont hat, ist der Film direkt an der Verhandlung der Thematik der Auswirkungen menschlicher Technik auf menschliche Körper interessiert – und nutzt diese nicht nur indirekt zur Verhandlung einer weiteren, davon gestreiften Thematik wie z.B. Sexualität oder sozialen Machtstrukturen. Gerade dadurch, dass Crimes of the Future

Um diesen Punkt auszurollen: zahlreiche staubige Klassiker, die danach streben, Hard Science-Fiction sein zu wollen – etwa die Wälzer von Isaac Asimov – kranken daran, dass sie sich zwar mit naivem Eifer ernst gemeinten Zukuntsvisionen widmen, dabei jedoch in vielen Aspekten, mit denen die „weichen“ Geisteswissenschaften sich abgeben, derart vernagelt sind, dass sie die Relevanz, nach der sie streben, nicht erreichen. Sie sind zu leicht dekonstruierbar; Asimov beschreibt Zukünfte, in denen echte Männer durchs Weltall düsen und bierernste Gespräche über Atomreaktoren führen, während dümmliche Weiblein der Einfachheit halber direkt am Herd bleiben (und letztlich machen Verfilmungen mit diversem Cast die eigentliche Problematik ebenso wenig besser wie bei den angeschnittenen Marvel-Titeln). Im Umkehrschluss nutzt z.B. The Handmaid’s Tale ein weniger futuristisches, jedoch gleichwohl naturwissenschaftlich nicht unbedingt unplausibles Setting, um patriarchalen Sexismus anzuprangern: womit Asimov’sche Hard Science-Fiction zwar nach deren eigenem Qualitäts-Maßstab naturwissenschaftlicher Akkuratesse übertroffen und zugleich (als Teil einer kritisierten hegemonialen Gesamtkultur) in ihren blinden Flecken als problematisch entlarvt wird, der initiale Anlass für das Streben nach gewissenhaft durchgerechneter Antriebsphysik und nachbaubar beschriebenen Maschinen (man bedenke: ohne die Vision tragbarer Kommunikationsgeräte in Star Trek hätte eventuell niemand – oder niemand so bald – darauf hingearbeitet, Handys zu erfinden und wir würden heute noch mitRauchzeichen kommunizieren, oder was auch immer man vorher verwendet haben mag) jedoch aus dem Blick gerät – der Versuch, sich ernsthaft mit der Zukunft zu beschäftigen.
Indem Crimes of the Future (und ähnliche in Richtung New Weird tendierende Science-Fiction-Stoffe) sowohl die Bemühung um Genauigkeit in angesichts der rasanten technischen Entwicklungen unserer Zeit auf lange Sicht letztlich so oder so metaphorischen wissenschaftlichen Detailfragen vermeidet als auch die Degradierung von Science-Fiction zum an sich nicht ernst zu nehmenden Genre, dem bloßen Vehikel für Metaphorik, gelingt es dem Film, brauchbare Proto-Science-Fiction nach GANZ als Schule abzuliefern. Das Prinzip erinnert an Vorläufer späterer Science-Fiction (oder Fantasy oder von Horror oder ausformulierten Genres generell) in der Phantastik bzw. Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts, von Autor:innen wie Jules Verne, E.T.A. Hoffmann oder Mary Shelley. Ja, Frankensteins Monster ist aus medizinischer Sicht Blödsinn; trotzdem ist Frankenstein ein zeitlos relevanter Beitrag zur Debatte über die Verantwortung medizinischer Forschung. Das Thema entsprechender Erzählungen wird in Metaphern für konkrete wissenschaftliche Details verpackt, was verhindert, dass sich dessen Erörterung verzettelt: oder dass es seinerseits (willentlich oder unwillentlich) zur schieren Metapher gerinnt. Man hat es mit informierter Naivität zu tun – was Crimes of the Future als nachhallend metamodernen Film qualifiziert.
Ja, Chirurgie hat eine verstörende sexuelle Metaphorik – aber indem der Film dies lakonisch plakativ feststellt, beißt er sich nicht in der Achtung heischenden Cleverness dieser Erkenntnis fest, sondern wagt es, sich (mithilfe krude zweckentfremdeter Sexmetaphern) tatsächlich mit seinem eigentlichen Gegenstand zu beschäftigen: Chirurgie an sich. Bzw. der Modifikation menschlicher Körper. Bzw.: Transhumanismus.
Transhumanismus als/und/v.s. „Playfulness“
„Transhumanismus (von lateinisch trans‚ jenseits, über, hinaus‘ und humanus ‚menschlich‘) ist eine philosophische Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sei es intellektuell, physisch oder psychisch, durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern will. Die Interessen und Werte der Menschheit werden als „Verpflichtung zum Fortschritt“ angesehen.“
Wikipedia. Was auch sonst.
Dem obigen Wikipedia-Eintrag merkt man an, dass ihn ein:e enthusiastische Anhänger:in transhumanistischen Denkens (mit) verfasst hat. Schon der Begriff „philosophisch“ riecht etwas nach dem Gebrauch des Worts auf Instagram-Kacheln; Transhumanismus ist bestenfalls eine Art halbgare Ethik, eigene Epistemologie und Metaphysik sind der Sache dann doch eher abgängig. Spätestens die dogmatische Formulierung „Verpflichtung zum Fortschritt“ dürfte klar machen, dass man es tendenziell weniger mit einer im philosophischen Sinne argumentativ bedeutsamen Perspektive zu tun hat, als eher mit einem hübsch provokanten Pseudo-Standpunkt, den wie einen ernst zu nehmenden Standpunkt ernsthaft zu kritisieren populären Kulturkritiker:innen vom Schlage eines Francis Fukuyama hier und da vielleicht etwas mediale Aufmerksamkeit beschert. Deterministisch von einer „Verpflichtung“ zu irgendwas auszugehen ist bestenfalls blauäugig, wahrscheinlicher aber Zeichen von, nunja, Dummheit. Nicht, dass eine dumme Idee, die Dumme anspricht, nicht durchaus gefährlich sein könnte – aber eher, weil sie dem vorhandenen Überdruck eine Richtung gibt, nicht weil sie aus sich selbst so besonders wirkmächtig wäre.
Nicht zu verschweigen, überzeugte Transhumanist:innen bedienen sich gern einer Bildsprache, die durchaus an Superheldenfilme oder das vielleicht gar nicht so viel höher zu bewertende Körperideal durchtrainierter griechischer Statuen gemahnt. Im Grunde besteht der einzige „Fortschritt“ des „Trans“-Humanismus gegenüber dem klassischen Renaissance-Humanismus darin, den Menschen nicht länger durch Optimierung seiner sprachlichen Ausdrucksweise (und Lateinunterricht) vervollkommnen zu wollen, sondern durch Optimierung seiner physischen Fähigkeiten; beides nach mäßig originellen Vorbildern aus der Antike, bloß eben Polyklet und Hagesandros statt Vergil und Cicero. Immerhin „smart“, geben Sport und stramme Körper – vielleicht mit dem einen oder anderen chromglitzernden Implantat? – doch schließlich mehr für Facebook her als Belesenheit und praktische Rhetorik (und sind höchstens noch besser zur Ausgrenzung dem Ideal nicht entsprechender Mitmenschen geeignet als bildungsbürgerliche Griechenkenntnis, deren elitäre Augenwischerei zahllose verdrießliche Postmodernist: innen beflissen herausgestellt haben).
Glücklicherweise lässt Crimes of the Future sich nicht darauf herab, verschwurbelte Techno-Utopismen zu dekonstruieren, die einen „Visionär“ wie Elon Musk begeistern mögen, während er mit seinen Plastikraketen spielt oder den Kanarienvogel überfüttert. Teil der Relevanz des Films besteht darin, die Auswirkungen von Technik – auf den Körper – als nicht zu verhinderndes Phänomen zu behandeln, bei dem sich allerdings sehr wohl beeinflussen lässt, welche konkrete Form es letzten Endes annimmt. Es geht nicht darum, plakative Ismen zu wiederlegen, sondern um die Realitäten, von denen sie inspiriert sind. Der Film leugnet nicht im Sinne mancher Degrowth-Theoretiker:innen die Unvermeidbarkeit technischer Entwicklungen – eher folgt er der Logik von Dürrenmatts Die Physiker (na danke, Deutsch-Abi): irgendjemand WIRD potenziell mögliche Technik entwickeln und irgendjemand WIRD sie auch nutzen – die Frage ist, wer, wie und wozu.

Hierin besteht eine Koinzidenz zwischen der Ebene als Science-Fiction-Film und der eingangs erörterten als „Body Horror“: der Status quo wird ausgehöhlt, Alternativen zur Diskussion gestellt – und deren Extremformen als Optionen ausgeschlossen. In Crimes of the Future einerseits die typische „Übermenschen„-Phantasie des Transhumanismus: keiner der Charaktere entspricht annähernd dem Bild von Michelalngelos David oder der Opium-fürs-Volk-Version desselben Archetyps mit Figuren wie Captain America, die Menschen spüren zwar keinen Schwerz mehr, sind immun gegen Infektionen etc. – nichtsdestotrotz sind alle kränklich, moribund, sie husten und humpeln, schwitzen und zittern, sitzen auf wackelnden Mutanten-Stühlen, weil ihre Sorgen sich nicht darum drehen, den Mars zu kolonisieren, um dort HD-Selfies in Siegerpose zu schießen, sondern darum, ihr Frühstück zu verdauern: allen voran der Protagonist Saul Tenser, dem seine anstrengende Kunst zu schaffen macht.
Wie auch z.B. in Houellebecqs Vernichten oder Peaky Blinders versinnbildlicht, können Meditationen über rohe Körperlichkeit (und deren Destruktion und Hinfälligkeit) sowohl bei anämischer Verantwortungslosigkeit als auch akutem Pflichtbewusstsein Abhilfe schaffen; regelrecht programmatisch erkrankt umgekehrt auch in Thor: Love and Thunder eine der ohne Superkräfte lebenden Nebenfiguren unheilbar an Krebs, entscheidet sich jedoch, dies lässig zu missachten, um lieber selbst noch schnell zur Superheldin zu werden – weshalb sie dann zwar alsbald ablebt, praktischerweise aber einfach in einem kitschigen Jenseits jenseits des Abspanns erwacht und dort gefeiert wird. Als hätte der anbandelnd ironisierte Mystizismus jenseitiger Erlösung noch gefehlt, um den zunehmend unverhohlen vorgebrachten (Re)Aktionismus der jüngeren Marvel-Filme als neurechten Stuss zu brandmarken.
Zurück zu Cronenberg. Im Wesentlichen sind die Akteur:innen der in Crimes of the Future gezeigten Künstler-Szene ohnehin zu schlau oder zumindest zu intellektuell gebildet, um auf stupide Heilsversprechen „philosophischer“ Denkrichtungen hereinzufallen. Andererseits wird die dogmatische Ablehnung menschlicher Entwicklung als angesichts der Prämisse unvermeidbarer Veränderungen ihrerseits üble Ideologie gezeichnet: das zu Beginn gezeigte Kind, das sich im Lauf des Films als Inbegriff avantgardistischer Evolution entpuppt, wird gleich am Ende der ersten Sequenz von seiner eigenen Mutter umgebracht: die ihm aufgrund seiner Andersartigkeit die Menschlichkeit abspricht. Abgesehen davon, dass Kindsmord kaum als Ausdrucksform eines ernsthaft in Betracht kommenden Standpunkts empfunden werden dürfte, wird die Tat (samt einiger sich daran anschließenden Gräuel) von den Charakteren – die immerhin ihren Lebensunterhalt damit verdienen, sich vor Publikum gegenseitig unbetäubt zu operieren – scharf verurteilt; insbesondere Caprice scheint emotional schwer getroffen.
Man kann nicht uneingeschränkt mitgehen, sich nicht uneingeschränkt verweigern, beides nicht ohne grauenhafte Konsequenzen: aber man muss so handeln, als würde man entweder eins davon anstreben oder aber komplett neutral bleiben wollen (was seinerseits nicht funktioniert, wenn der eigene Körper sich von allein verändert), man muss eine Rolle SPIELEN: da man sonst über-rollt wird.

Diese Erkenntnis ist der entscheidende Schritt, mit welchem Crimes of the Future darüber hinausgeht, Dürrenmatt aufzuwärmen, um Mutationen, Performance-Art und eine Menge Kunstblut zu addieren.
Hochinteressant ist hierbei, das Caprice mehrfach stark betont und positiv konnotiert äußert, dieses oder jenes Verhalten anderer Personen sei, so wörtlich, „playful“ gewesen. Die Situation ist offenkundig viel zu mysteriös, komplex und verworren, um dauerhaft zu einem klaren Standpunkt zu gelangen; angesichts dessen kann man verzweifeln: oder so tun, als wäre es anders. Seitwärts gehen, gewissermaßen. Indem man dem Perspektivlosen spielerisch begegnet, erschließt man sich eine Meta-Perspektive.
Als stark vereinfachte Formel: Die Besinnung aufs Physisch-Körperliche im Verbund mit einem Bewusstsein für die Unentrinnbarkeit der Verstrickung ins Gedankliche, Kulturelle, Memetische – beide bedingt vom galoppierenden Fortschritt – lassen allemal das den Widerspruch ertragbar machende Kunststück zu, das Dasein spielerisch zu rezipieren.
„Die Magie des Traums versagt am Tage oft, weil auch noch der beste Träumer die Außenwelt im Wachsein wichtiger nimmt
Hermann Hesse, Lektüre für Minuten
als er sollte. Die Verrückten können das besser; sie erklären sich für Kaiser und die Zelle für ihr Schloß, und alles stimmt wunderbar. Die Außenwelt umzaubern können, ohne verrückt zu werden, das ist unser Ziel. Es ist nicht leicht, dafür aber ist wenig Konkurrenz da.“
Diese Meta-Perspektive wird in Crimes of the Future angewandt auf Technik und Transhumanismus, Kunst, Gesetze und eigentlich alles, womit sich der Film auseinandersetzt. Exemplarisch ist beispielsweise auch eine Szene, in welcher Saul sich für einen Underground-Kunstwettbewerb angemeldet hat, als dessen Favorit er zudem gehandelt wird. Während der Kurator des Wettbewerbs begeistert seine Bewerbung entgegennimmt, stellt er recht schlüssig dar, warum die Teilnahme am Wettbewerb überrasche, da sie doch eigentlich in extremem Wiederspruch zu Sauls Kunst bzw. seinem künstlerischen Standpunkt stehe. Saul erklärt, dies einzusehen, wirkt ehrlich betroffen, will die Bewerbung gleich zurückziehen – woraufhin der entsetzte Kurator ihm eröffnet, dass Sauls Prominenz als bekanntester Teilnehmer den Wettbewerb insgesamt trägt, dass er ohne seine Beteiligung gar nicht erst stattfinden könnte. Ein paradoxes lose-lose-Dilemma, wie es so ähnlich gut und gerne aus einer Kafka-Erzählung stammen könnte. Anders als bei Kafka gelingt es Saul jedoch, die Situation zu lösen: indem er sich mit dem Kurator darauf einigt, so zu tun, als hätte das bisherige Gespräch nicht stattgefunden und er wäre gerade erst zur Tür hereingekommen, um seine Bewerbung einzureichen. Ein So-tun-als-ob; ein „Restart“; ein Spiel: paradoxes Verhalten zur Lösung eines unlösbaren Paradoxons. Und so weiter.
In diesem Motiv fallen die inhaltliche Argumentation und die Erzählweise zusammen: auch das offen vage gehaltene Setting und die (gewissermaßen mit dem geneigten Publikum einvernehmliche) Behandlung des Science-Fiction-Sujets mithilfe von Fantasy-Elementen haben etwas Spielerisches; ebenso hat es etwas Spielerisches, sich einen grotesken Film wie Crimes of the Future anzusehen, zumal im Kino, jedenfalls wenn man kein:e nach so vielen Obduktionen wie möglich lechzende Psychopath:in ist (falls Sie sich angesprochen fühlen: nehmen Sie es nicht persönlich. Ist schließlich Ihre Sache.): man geht ins Kino, kauft vielleicht Popcorn oder eine Cola und sieht wie alle anderen im Saal brav, still und aufmerksam zu, wie Viggo Mortensen von einem an Tentakeln von der Decke hängenden Schildkrötenpanzer in den Schlaf geschaukelt wird, wie Leute Plastik essen oder applaudieren, weil jemandes Innereien herumgezeigt werden – genau so, wie man auch einen x-beliebigen seichten Unterhaltungsfilm (z.B. einer Superheldenkomödie) ansehen würde. Die Situation wird absurd: und frei nach Camus‘ und seinem Absurdismus weigert man sich, diese Tatsache anzuerkennen und sich davon die Radieschen verhageln zu lassen. Wie nahmhafte Soziolog:innen dargestellt haben, gleicht die Rezeption von Midnight-Movies (und im wesentlichen kann Crimes of the Future als solcher betrachtet werden, unabhängig von der Uhrzeit, zu der er gezeigt wird) den spielerischen Ritualen gewisser Naturvölker, etwa balinesischer Tanzgruppen: man zweckentfremdet Konventionen, um sich trotz deren Unvermeidbarkeit über sie zu erheben. Man folgt den Spielregeln: welche im eigentlichen Sinne als solche erkennbar werden.

Absolut. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit „Playfulness“ als irgendetwas zwischen indirekter Variante von und Gegenentwurf zu Transhumanismus im weitesten Sinne finden unverzagte Gemüter im Schlusskapitel meines Fachwerks Jenseits des Postmodernen: Die Geburt der Metatragödie.
Bleiben Sie gesund – und übertreiben Sie es damit nicht!
Robert Boehm, Leipzig, 16.11.2022. Letzte Revision am 19.11.2022
Bildquellen: Pixabay.com, Lookandlearn.com
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