Was Sie erwartet: eine Analyse des spezifischen Leseerlebnisses von Walter Moers’ „Zamonien“-Zyklus. Damit soll selbstredend nicht versucht werden, der Reihe in all ihren Facetten gerecht zu werden. Immerhin hat man es (zum jetzigen Zeitpunkt) mit satten acht Romanen, zwei Graphic Novels und weiteren zwei Büchern mit semifiktionaler Sekundärliteratur zu tun. Vielmehr geht es um einen konkreten Aspekt: das Ineinandergreifen von Inhalt, Form und Wirkung. Um die erzählerische Dialektik, falls Sie so möchten. Denn wir haben es hier mit einem exzellenten Beispiel dafür zu tun, wie konsequente Prämissen beim Worldbuilding als strategisches Instrument zum Erzeugen bestimmter Rezeptionserfahrungen fungieren können. Zur Warnung: der Gegenstand ist bodenlos. Rechnen Sie mit einigen Abschweifungen.
„Building Better Worlds.“
Wahlspruch des Weyland-Konzerns, vor der Fusion zu Weyland-Yutani
Unter „Worldbuilding“ verstanden wird hier jener Anteil der Entwicklung fiktionaler Stoffe, der sich mit dem Ausdenken der Wirklichkeiten befasst, in denen die zu erzählenden Geschichten angesiedelt sein sollen. Dies muss keinen separaten Arbeitsschritt ausmachen, sondern kann auch implizit erfolgen: zu überlegen, was geschieht, bedeutet zwangsläufig auch, festzulegen, wo, wann und unter welchen Bedingungen es geschieht. Streng genommen ist Worldbuilding somit zum Erzählen jeder fiktionalen Geschichte vonnöten: einen Krimi zu schreiben, der in Hamburg spielt, bedeutet auch, eine imaginäre Alternativversion von Hamburg zu erschaffen, eine Parallelrealität, in welcher Menschen, Orte und Dinge existieren, die sich vermutlich so nicht finden ließen, wenn man im echten Hamburg suchen würde. Z.B. ein wie Scarface um sich schießender Kriminalhauptkommissar, der verdächtig aussieht wie ein wohlwollend ausgeleuchteter Til Schweiger und versucht, so zu tun wie Daniel Craig, der seinerseits so tut, als wäre er James Bond. Im engeren Sinne aber meint Worldbuilding das Ausarbeiten von Handlungswelten, die sich massiv von der gegenwärtigen oder historischen Realität unterscheiden. Sprich: das Zeichnen von Landkarten, die Deklination neuer Sprachen, das fixieren fiktiver Historien für nicht minder fiktive Völker, Überlegungen zu Anatomie und Stoffwechsel irrealer Kreaturen, der Wirkweise fremdartiger Drogen und so weiter. Oft mit der Absicht, mehrere Erzählungen in derselben einmal erdachten Welt anzusiedeln. Besonders prominente Beispiele wären etwa J.R.R. Tolkiens Mittelerde, H.P. Lovecrafts „Cthulhu-Mythos“ sowie Frank Herberts Dune-Universum mit seinen unterschiedlichen Planeten, von Tleilax bis Arrakis. Sodenn, Zamonien.
Abschweifung: die Erzählform. Erwähntermaßen handelt es sich bei den meisten Büchern der Reihe mehr oder minder um Romane. Einige davon entsprechen klassischer Genre-Prosa mit Er-/Sie-Erzähler. Andere sind als Autobiographien ihrer unzuverlässigen Erzähler:innen angelegt oder als innerhalb der beschriebenen Welt existente und auch dort fiktionale Romane aus der Feder von Charakteren, die ihrerseits in anderen Romanen physisch in Erscheinung treten. Hinzu kommen in all diesen Texten eingeschobene Zitate von weiteren innerhalb der beschriebenen Welt existenten Werken: z.B. Auszüge fiktiver wissenschaftlicher Abhandlungen. Darin besteht große Ähnlichkeit zur Erzählweise Lovecrafts, dessen Geschichten immer wieder aufeinander und auf fiktive Quellenwerke (wie das „Necronomicon“ des „wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred“) verweisen, um somit einen hypertextuellen Gesamtkosmos anzudeuten. Um die Sache zusätzlich zu verkomplizieren, tauchen in den Zamonien-Büchern mehrfach Kreaturen und Elemente auf, welche DIREKT Lovecrafts Cthulhu-Mythos entstammen: beispielsweise kommt in Die Stadt der träumenden Bücher ein „Shoggoth“ vor. Noch stärker ähnelt das Konzept Zamoniens Jeff VanderMeers Romanreihe um die Stadt „Ambergris“ (bestehend aus The City of Saints and Madmen, Shriek: An Afterword und Finch). Besonders die in Die Stadt der träumenden Bücher etablierte Siedlung „Buchhaim“ weist zahlreiche Parallelen zu Ambergris auf, auch erinnert die Entführung der Bewohner „Wolpertings“ in Rumo & Die Wunder im Dunkeln nachhaltig an das für Ambergris prägende fiktiv-historische Ereignis der „Stille“. Ende der Abschweifung: wie sieht Zamonien denn nun aus?
Laut vagen Angaben im ersten fraglichen Roman Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär handelt es sich bei Zamonien um einen inzwischen untergegangenen Kontinent im Herzen des Atlantiks. So ist die inoffizielle Hauptstadt des Kontinents – mehr oder weniger ein Äquivalent New Yorks – betitelt mit „Atlantis“. Darüber hinaus fungiert Zamonien jedoch als völlig eigenständiges Universum: der Kontinent könnte ebenso gut vor den Küsten Númenors und Mittelerdes, neben R’lyeh im Pazifik oder in einem Ozean auf Tleilax liegen. Wann und wo die Ereignisse spielen, ist unerheblich: auch die Chronologie der in den Romanen geschilderten Ereignisse ist in sich dezidiert wiedersprüchlich (bzw. nicht-euklidisch…). Letzlich entspricht Zamonien laut Moers einer Metapher für eine durchaus reale Welt:
„Wie bereits erwähnt, ist Amerika für mich Zamonien. Und von dort habe ich ziemlich viel mitgebracht – zum Beispiel Zamonien.“
Walter Moers
Technisch und Kulturell sind die verschiedenen Regionen Zamoniens unterschiedlich entwickelt: die Stadt Atlantis ähnelt einer modernen oder sogar futuristischen Großstadt (Gebäude bestehen aus Stahlbeton, es gibt Containerschiffe und Elektrizität), während z.B. die zyklopischen Bewohner der „Teufelsinseln“ ihr Dasein unter steinzeitlichen Konditionen fristen und einander mit Faustkeilen totschlagen. Im Durchschnitt jedoch scheint sich die Welt etwa auf dem Stand des realen Mittelalters bzw. der Rennaissance zu befinden: man schießt mit Armbrüsten, lebt in Fachwerkhäusern und heizt diese mit Holzöfen. Religionen spielen eine sehr geringe Rolle, meist herrscht ein eher aufgeklärtes Weltbild vor (die Bewohner Zamoniens belagern einander mit Katapulten und schreiben auf Pergament, wissen aber, dass Mikroorganismen für Krankheiten verantwortlich sind und dass die Erde als Kugel durchs Weltall kreist). Es gibt keinerlei „überinnliche“ Elemente wie Gottheiten oder Magie, dafür aber ans Magische grenzende, vorgeblich wissenschaftlich erklärbare Phänomene – etwa Gedankenübertragung per Telepathie, denkfähige Substanzen oder Dimensionslöcher.
Für die Zielstellung dieses Essays entscheidend ist, dass Zamonien (fast – man vergesse z.B. Prinz Kaltbluth nicht!) nicht von Menschen bewohnt wird, sondern von einer Unzahl eigenwilliger Spezies, darunter sowohl bekannte Mythenfiguren wie die genannten Zyklopen als auch gänzlich exklusive Kreaturen. Es herrscht eine Vierfalt, die man in Mainstreamliteratur und -kino beinahe ausschließlich in opulenten Science-Fiction-Epen (bzw. Space Operas) wie Star Wars, Valerian oder The Fifth Element antrifft. Um einen Einblick zu vermitteln einige Beispiele:

- Natifftoffen: anthropomorphe Albino-Elche ohne Humor, die stets als Verwaltungsbeamte, Notare oder Politiker tätig sind.
- Blutschinken: grobschlächtige, fellbewehrte Barbaren, unter denen man keinen Schöngeist findet: tätig als Söldner, Bandidten oder Leibwächter.
- Wolpertinger: Hunde mit Hörnchen, von denen einige in der Pubertät anfangen, aufrecht zu gehen, Intelligenz zu entwickeln und sich ihrer selbst bewusst zu werden – um dann wie Siegfried aus dem Wald zu kommen und die Welt als Heroen oder zumindest ehrenwerte Krieger zu bereichern.
- Buchlinge: mit Hypnose-Kräften ausgestattete, pazifistische Zwerg-Zyklopen, die sich ernähren, indem sie Bücher lesen.
- Lindwürmer: vernunftbegabte, etwa menschengroße Dinosaurier, die ausnahmslos als Schriftsteller tätig sind.
- Eydeeten: lichtscheue Gnomen-Wissenachaftler mit mehreren Gehirnen, die ekstatische Rauschzustände durchleben, wenn sie Wissen weitergeben können.
- Haifischmaden: hochintelligente, amphibische und sehr langlebige Wurmwesen mit der Tendenz, hochkarätige doch anrüchige Ämter zu begleiden: darunter Piratenkapitäne, Kriegsminister und exzentrische Spitzenwissenschaftler.
Entscheidend für das hier untersuchte Leseerleben ist, dass Mitglieder der jeweiligen Gattungen stets ähnliche Wesenszüge aufweisen – und ähnliche soziale Rollen erfüllen. Natürlich gilt dies auch für fiktive Spezies‘ in anderen phantastischen Szenarien: beispielsweise die in der epischen Fantasy weit verbreiteten Orks sind (abgesehen davon, dass sie selten Fell tragen) beinahe identisch mit den zamonischen Blutschinken. Derweil entsprechen Zwerge einem so gut wie immer gleichen Cocktail, dessen Zutaten bloß leicht verschieden abgemischt vorliegen: im Grunde stets Varianten des Carakters Gimli aus The Lord of the Rings, bei denen z.B. mal dessen Rauflust, mal sein Traditionsbewusstsein und mal der Hang zum Hegen alten Grolls stärker gewichtet sind als der jeweilige Rest. Allerdings gilt dies nicht für alle archetypischen Fantasy-Wesen: Elfen werden zwar beinahe immer als langlebig und (im Sinne eines westlichen Ideals) attraktiv interpretiert und Hobbits sind meist bieder, bürgerlich und eher friedliebend, jedoch zeichnen sich die einzelnen Vertretern dieser Gattungen durch deutlich stärkeren Individualismus aus: Frodo Beutlin tendiert in Richtung eines melancholischen Hamlets, während Samweis Gamdschie sich als beherzter, lebensfroher Gärtner durchschlägt.

Dies ist auch in Star Wars der Fall: Hutten wie Jabba the Hut ähneln Moers’ Haifischmaden, Gamorreaner den Blutschinken/Orks, Tusken einer gleichförmigeren Version von Fremen ohne Kwisatz Haderach – doch andere Spezies wie Twi’leks oder Gungans neigen zu deutlich divergierenden Charakteristika: der allseits beliebte Tollpatsch Jar Jar Binks teilt wenige Attribute mit dem aufbrausenden Bürgermeister der in The Phantom Menace gezeigten Unterwasserstadt.
Ein besonders interessantes Beispiel sind in diesem Zusammenhang die in der Welt „Baslag“ bzw. der in Baslag gelegenen Stadt „New Crobuzon“ abgesiedelten Romane von China Miéville, wie etwa Perdido Street Station. Das Setting weist starke Ähnlichkeit zu Zamonien auf: allerdings unterscheidet sich das Rezeptionsgefühl drastisch. Im Wesentlichen neigen die Zamonien-Romane dazu, entspannte Heiterkeit zu verbreiten, während die Baslag-Bücher ein (für masochistisch veranlagte Leser gleichwohl konsumierbares) Unwohlsein hervorrufen. Zum Teil liegt dies daran, dass es in Baslag ähnlich viele Spezies gibt wie in Zamonien, denen auch ähnlich einheitliche Attribute zugeschrieben werden können – woran die Charaktere allerdings selbst leiden. Sie kämpfen gegen ihre Geworfenheit an, mühen sich, ihre herkunftsbedingten Rollen zu transgressieren, verzweifeln an dem, was sie sind bzw. sein könnten oder sein sollten. So leidet der Vogelmensch Yagharek zunächst am Verlust seiner Flügel, findet letztlich jedoch Erfüllung darin, sich noch weiter zu verstümmeln. Die Insekten-Mensch-Hybridin Lin verweigert nicht nur die ihr von Familienseite zugedachte Geschlechterrolle, sondern strebt als Avantgarde-Bildhauerin auch danach, die traditionellen künstlerischen Ausdrucksformen ihrer Gattung zu rekontextualisieren. In anderen Fällen werden körperliche Rekonfigurationen als Strafe verhängt: beispielsweise das Ersetzen von Händen durch riesige Maulwurfskrallen, um damit notgedrungen als Bergarbeiter:in tätig zu werden.

Ja, richtig, eine Menge Fremdwörter mit postmodernem Beigeschmack. Ob intentionell oder nicht entspricht Baslag damit durchaus jenem kritischen Zeitgeist, dem zahlreiche soziale Bewegungen und Skandale im Zusammenhang echter wie eingebildeter Fälle von Menschenfeindlichkeit ihr ausgeprägtes Medienecho verdanken. Über Moers’ Zamonien-Kosmos lässt sich das nicht sagen: die verschiedenen Völker Zamoniens als Sinnbilder realer Bevölkerungsgruppen zu deuten, würde eventuell bedingen, die Romane als garstige reaktionäre Polemik zu missverstehen, als Parodien emanzipatorischer Ansätze. Glücklicherweise wäre das – wie auch bei den anderen genannten Reihen, abgesehen vielleicht vom „Lebenswerk“ Lovecrafts – ebenso abwegig wie falsch: den Mitgliedern der zamonischen Spezies‘ fehlt Individualität, weil sie IHRERSEITS Metaphern für individualisierte Persönlichkeitstypen bilden, die von Herkunft, Geschlechtsverständnis, Hautfarbe, etc. weitgehend losgelöst sind.
Die Gattungen Zamoniens stehen nicht dafür, was Menschen per Geburt sind (respektive, was ihnen zugeschrieben wird), sondern für das, wozu sie sich im Laufe ihres Lebens entwickeln. Für Vertreter:innen von Subkulturen, Berufsgruppen und Geisteshaltungen. Im Fall der zamonischen Kreaturen SIND die jeweiligen Attribute jedoch angeboren: anders als im Falle realer Menschen tragen sie dafür keine oder nur sehr bedingt Verantwortung. Ein Natifftoffe kann ebensowenig aus seiner Haut wie ein Buchling. Eine Wolpertingerin wird fast ohne eigenes Zutun zur Heldin. Ein Blutschink kann und muss sich zu seiner Rechtfertigung nicht auf eine schwere Kindheit berufen.
Das Vorhandensein der von den Völkern und ihren einzelnen Mitgliedern verkörperten Persönlichkeiten ist weder kulturell begründet noch die Folge individueller Entscheidungen, sondern biologische Notwendigkeit. Das Auftreten rüpelhafter Grobiane und neugieriger Forscher entspricht Naturgesetzen: ebenso wie das von Kaulquappen, Gewittern oder Magnetismus. Dies gilt für die vernunftbegabten Zamonier ebenso wie für geistlose Ungeheur; z.B. wird Zamonien von „Bolloggs“ heimgesucht: (zeitweilig) kopflosen Riesen, die Mensch und Tier ebensowenig aus üblem Vorsatz zertrampeln wie Wirbelstürme oder Lawinen. But never mind the Bollocks. Ein ähnliches Beispiel ist die Armee der „Kupfernen Kerle“:
„Die Kupfernen Kerle mordeten und brandschatzten nicht, um zu übrleben – denn sie lebten ja eigentlich gar nicht mehr. Sie raubten nicht, um zu essen – denn sie benötigten keine Nahrung, hatten keinen Durst. Sie töteten, um zu töten. Die Kupfernen Kerle waren wie das Schicksal, wie eine Naturkatastrophe, die plötzlich hereinbrach, ohne jede Warnung, ohne Sinn, blindwütig und gnadenlos wie der Krieg.“
Volzotan Smeik in Rumo & Die Wunder im Dunkeln
Dieses Motiv zieht sich implizit durch weite Teile des Œuvres von Walter Moers (der, das sollte nicht vernachlässigt werden, auch Figuren wie Adolf und Das kleine Arschloch geschaffen hat). Beispielsweise Prof. Dr. Feinfinger „der Schreckliche“, das größenwahnsinnige Verbrecher-Wissenschaftler-Künstler-Genie, Käpt’n Blaubärs Erzrivale und Fernschach-Gegner (Helge Schneider in seiner Paraderolle), bekannt aus Käpt’n Blaubär – Der Film, kann auf den ersten Blick durchaus für seinen abschreckenden Werdegang verantwortlich gemacht werden. Immerhin hat er sich bereits im Kindesalter entschieden, statt des Gymnasiums die Superschurken-Schule zu besuchen: allerdings ist bezeichnend, dass es die Superschurken-Schule als solche überhaupt gibt und dass sie als höhere Lehranstalt akkreditiert zu sein scheint (hätte Blaubär nicht Feinfingers finale Prüfung ruiniert, hätte er dort explizit sein Abitur machen können). Auch wünschen Käpt’n Blaubär und seine Crew dem deprimierten Feinfinger am Ende des Films, nachdem sie seine in diesem Fall gegen sie gerichteten Pläne durchkreuzt haben, viel Erfolg für weitere unlautere Machenschaften.
Aber zurück zum eigentlichen Unteruchungsobjekt. Zusammenfassend lassen sich beim Zamonien-Worldbuilding folgende Prämissen feststellen:
- Es gibt eine nicht abschließend feststellbare Zahl an Spezies (des Weiteren zu nennen wären auf Anhieb Berghutzen, Stollentrolle, Rikschadämonen, Schrecksen, Buntbären, Fhernhachen…).
- Jede Spezies hat spezifische, klar umrissene Eigenschaften (die in der Regel das Spektrum der Aktivitäten bzw. Berufsbilder eingrenzen: Rikschadämonen ziehen Rikschas….).
- Die Persönlichkeiten einzelner Individuen innerhalb einer Spezies ähneln einander sehr (und neigen bestenfalls in extremen Ausnahmen dazu, sich von ihren Artgenossen abgrenzen zu wollen: wie etwa Ukobach und Riebesehl in Rumo & Die Wunder im Dunkeln).
- Selten bis nie bekunden Individuen Unmut daran, ihrer jeweiligen Spezis anzugehören (oder generell zu existieren bzw. unter den allgemeinen Verhältnissen Zamonien zu existieren).
Hierbei sei festgestellt, dass z.B. in Rumo & Die Wunder im Dunkeln dermaßen viele Wolpertinger vorkommen, dass diese sich allein zugunsten der Unterscheidbarkeit stärker voneinander unterscheiden müssen als beispielsweise die deutlich selteneren Eydeeten. Allerdings greift Moers hierbei auf einen Kompromiss zurück: zwar Teil derselben Spezis – wir erinnern uns: gehörnte Hunde – unterscheiden sich die charakterlich verschiedenen Personen dennoch körperlich stark voneinander – es handelt sich je um verschiedene Hunderassen. Der humorlose Bürgermeister ist ein Bernhardiner, der aufmüpfige Schulhof-Rowdy Rolv ist ein Terrier, die geduldige Sprachlehrerin Oga von Eisenstadt eine Bulldogge etc.. Auch die Eydeeten bekleiden unterschiedliche akademische Ränge und beschäftigen sich mit abweichenden Forschungsgebieten – und sie haben abweichend viele Gehirne., die in Extremfällen als Auswüchse aus ihren Schädeln ragen
Von besonderem Interesse ist, dass die intelligenten Gattungen Zamoniens – ebenso wie (realistische oder fiktive) Tiere, Bestien (die Bolloggs oder z.B. die „Finsterbergmade“, die schreckliche „Waldspinnenhexe“, etc.) und abnorme Kreaturen, von denen es bloß ein einziges Exemplar gibt (die „Mume mit dem tausend Fingern“, „General Ticktack“) – pauschal als „Daseinsformen“ bezeichnet werden. Nicht ausschließlich doch besonders aufdringlich erfolgt dies in einem der immer wieder auszugsweise zitierten fiktiven Quellenwerke: dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von dem Eydeeten Prof. Dr. Abdul Nachtigaller (ein offensichtlicher Querverweis auf Lovecrafts wahnsinnigen Araber Abdul Alhazred, dessen erwähntes Necronomicon u.a. so etwas darstellt wie Lexicon der von Lovecraft erdachten Götter und Aliens).
„Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.“
Martin Heidegger, Sein und Zeit
Diese Begriffswahl verweist recht unzweideutig auf die philosophische Strömung der Phänomenologie, insbesondere auf Martin Heideggers Daseins-Konzept. Leitgedanke der Phänomenologie ist, dass die eigentliche Realität, über die sich Erkenntnisse gewinnen lassen, nicht etwas Objektives ist, das Menschen verfälscht bzw. nur partiell wahrnehmen, sondern die Wahrnehmung selbst. Sieht man beispielsweise einen Stuhl, passiert laut der Phänomenologie NICHT folgendes: ein Mensch bewegt sich durch die objektiv vorhandene Welt, begegnet einem objektiv vorhandenen Stuhl, nimmt diesen mit seinen physischen Sinnesorganen wahr, diese übersetzen die Wahrnehmung in Nervenimpulse, welche zum Gehirn übertagen werden, das sie interpretiert, woraufhin das „gesehene“ Bild eines Stuhls dem subjektiven Bewusstsein erscheint. Stattdessen ERSCHEINT die ERSCHEINUNG eines Stuhls. Ein Stuhl EREIGNET sich. Entsprechend gibt es NUR Erscheinungen im subjektiven Bewusstsein („Phänomene“) bzw. NUR DAS SUBJEKTIVE BEWUSSTSEIN: nicht einen Stuhl und dessen Wahrnehmung, sondern ausschließlich die Wahrnehmung, welche TEMPORÄR Stuhlform annimmt. Schmählich vereinfachend ausgedrückt. Heideggers Daseins-Argumentation zufolge ist der Mensch nicht ein körperliches Wesen, dass sich durch eine physische Welt bewegt und diese wahrnimmt – sondern er IST die WAHRNEHMUNG der Welt bzw. die Summe der Wahrnehmungen. Respektive: er ist nicht (nur) die Leinwand, sondern (auch) der darauf ablaufende Film. Vergleichbar mit dem berühmten Ausspruch des zwölfjährigen Tolstoi, den Frank Herbert in Chapterhouse: Dune zitiert: „Ich bin kein Strom, ich bin ein Netz!“. Sie sind noch nicht verwirrt?

Bezogen auf Zamonien wird das Ganze etwas griffiger. Als literarische Schöpfung existiert Zamonien in keinem Fall objektiv, sondern DEFINITIV nur in der subjektiven Vorstellung der Leser:in. Die Bewohner Zamoniens – und jeder Stein, jeder Tintenklecks, jeder Grashalm in Zamonien – sind imaginierte Phänomene, Ausformungen der selben bloß subjektiv existenten Vorstellungswelt. Unabhängig davon, wie es sich mit dem Papier verhält, auf dem Zamonien gedruckt ist: sie sind Vorstellungen der Leser:in – sie sind ein TEIL von ihr! Anders ausgedrückt: sie erscheinen beim Lesen, wie sie nunmal erscheinen – und das ist die ganze Wahrheit. Diese wird zusätzlich dadurch betont, dass Moers die Naturgesetze beim Schildern Zamoniens nicht allzu genau nimmt bzw. sie zugunsten erzählerischer Gesetze beugt: etwa, wie schnell sich Dinge im Verhältnis zueinander bewegen können oder wie sich ein Fall aus großer Höhe auswirkt. Skeptizismus erübrigt sich von vornherein. Man kann darauf vertrauen, dass die Dinge sind, wie man sie erlebt. Man ist nicht dafür verantwortlich, DASS sie sind, wie sie sind: sie sind Erscheinungen, die nun einmal so erscheinen.
Man selbst ist nicht verantwortlich und die Daseinsformen sind es auch nicht. Man hat keinerlei Anlass, sie zu kritisieren, sondern kann und muss sie zunächst einmal als gegeben annehmen. Dies befreit davon, moralische oder sonstwie wertende Kategorien anwenden zu müssen. Betrachten wie die Haifischmaden: eine Spezies ausnahmslos größenwahnsinniger intriganter Subjekte, irgendwo zwischen James-Bond-Bösewicht, Pate des Corleone-Clans und Salvador Dalí. Geistesgenossen Feinfingers. Und doch muss man sie nehmen, wie sie sind. Bzw. wie sie beim Lesen in der eigenen Vorstellung in Erscheinung treten. Beispielsweise in Rumo & Die Wunder im Dunkeln tritt die Haifischmade Volzotan Smeik als Lehrmeister Rumos auf: ein kampfbegeisterter frührerer General und Casino-Croupier, der einen Minderjährigen mit Kriegsgeschichten erzieht – noch dazu mit der Absicht, ihn zu einem Kämpfer heranzuziehen, der seine Pläne vorantreibt. Aber man kann ihm nicht böse sein. Nicht auszudenken, man spräche über (reale) Menschen: ein Warlord, der einen Kindersoldaten ausbildet! Doch schon der Gedanke, Volzotan Smeiks Verhalten als Rezipient so kritisch zu beurteilen wie etwa das der Kriegsverbrecher in Incendies wäre komplett abwegig, wider den guten Geschmack. Er ist eben eine Haifischmade.

Moers’ Worldbuilding geht aber noch darüber hinaus: auch die verschiedenen Daseinsformen Zamoniens müssen einander so akzeptieren, wie sie sind! Im Grunde weiß oder ahnt jeder Zamonier – oder zumindest jeder, der etwas Bildung genossen hat – was es mit Haifischmaden auf sich hat. Dennoch kommt es zu keinem Pogrom: alle Daseinsformen haben ihre Fehler, einander in gewissem Rahmen zu tolerieren, ist Grundbedingung des allgemeinen Friedens. Gewiss werden einige Kreaturen wie etwa Werwölfe ausgegrenzt: aber die Grenzen der Toleranz sind weit gesteckt. Es gibt eine soziale bzw. ökonomische Nische für Haifischmaden und diese füllen sie aus.
Hinreichend begünstigt von den genannten Prämissen des Worldbuildings und zusätzlich inspiriert vom Beispiel der geschilderten Weltbewohner ist man als Leser:in also geneigt, die verschiedenen Bewohner Zamoniens als gegeben vorzufinden und mangels Gegenargumenten so wie sie sind anzunehmen. Vergleichbar mit einem Kind, das die Welt kennenlernt, ohne bereits bewusstermaßen in deren Verwerfungen verstrickt zu sein. Anstelle des Gefühls, in ein nicht selbst gewähltes Leben hineingeworfen zu sein, wird man in die Situation einer (noch) neutralen Entdecker:in zurückversetzt, welche die Freiheit hat, zu entscheiden, wer sie vielleicht sein kann oder werdem möchte – oder ob sie überhaupt in Relation zu den Dingen zu treten gedenkt.
Metaphorisch repräsentiert von den zamonischen Daseinsformen wird die menschliche Gesellschaft dargestellt als Gefüge aus Rollen und Verstrickungen, von dem man nicht selbst Teil ist. Ein Ökosystem mit seinen Tieren und Pflanzen, das man erforschen kann: wie ein spielendes Kind, das eine Wiese voll Insekten oder einen Tümpel voll Kaulquqappen erkundet. Als würde im Film Noir – in dessen Bildsprache das streifenweise auf die Charaktere fallende Licht der nächtlichen Großstadt deren unentrinnbare Verstrickung in den Sumpf sozialer Abhängigkeiten von Liebe, Geld und Laster repräsentiert – einfach Mal jemand das Deckenlicht einschalten. Wie der Charakter Settembrini in Der Zauberberg das Zimmer des im Zwielicht zunehmend seiner Krankheit (und seiner Gebundenheit an das Sanatorium sowie an dessen Bewohner) genießenden Protagonisten Hans Castorp betritt und diesen durch Betätigung des Lichtschalters aus seinem dekadenten Brüten zu reißen versucht.

Verstärkt wird dieses Leseerlebnis, das Zurückversetztsein in die Kindheit, noch durch das erwähnte „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“. Man lernt die Welt im Buch durch Bücher kennen, ganz so, wie man als Kind vielleicht Tierarten erstmals beim Blättern in Brehms Tierleben oder ähnlich enzyklopädischen Werken kennengelernt hat. Dieses heraufbeschworene Gefühl des Nichtbetroffenseins, diese unbeschwerte Freiheit, der phänomenologische Blick auf die Dinge ist, was aus dem Worldbuilding Zamoniens erwächst und weshalb das entsprechende Leseerlebnis ein dergestalt angenehmes ist.
Eine solche Perspektive kann verglichen werden mit einer bestimmten Form der Darstellung von Nahtod-Erfahrungen in der filmischen Tradition Hollywoods. Kurz bevor die fraglichen Protagonist:innen sterben oder zu sterben glauben, werden ruhige, friedliche Natureinstellungen gezeigt. Sonne, die durch treibende Wolken bricht. Bäume in Wind. Oder das nach wie vor andauernde Geschehen in entfremdeter Form, z.B. in Zeitlupe oder ohne Ton. Dieses Stilmittel findet sich beispielsweise in The Last Temptation of Christ, kurz bevor Jesus am Kreuz verstirbt: von einem Moment auf den anderen wirkt alles neutral, weder gut noch schlecht, auch die zappelnden Mitverurteilten an den Kreuzen nebenan: bloß zuckende Materie. Ähnlich ergeht es dem Cowboy Greider im österreichischen Western Das finstere Tal: die ausschlaggebende Schießerei scheint sich zu seinen Ungunsten zu entwickeln, alles scheint umsonst, verkrümmt hinter seiner knappen Deckung pfeifen ihm die Gewehrkugeln um die Ohren – dann ein Schnitt zu sich wiegenden Tannen, plötzlich Stille. Woraufhin Greider aber nicht wie Jesus stirbt, sondern bloß seine Zweifel zurücklässt, zum riskanten Gegenschlag übergeht und ein auch weiterhin grandios inszeniertes Finale in Gang setzt.

Dieses Erleben ist, was Psychoanalytiker wie Slavoj Žižek teils als „Subjektive Entbehrung“ bezeichnen: das Heraustreten aus jeder symbolischen Identifikation, aus sozialen Hierarchien, aus Machtstrukturen und Was-Wäre-Wenn-Erwägungen. Wertfrei nüchterne Betrachtung. Ein reichlich anarchisches Moment.
Ähnlich argumentiert der sterbenskranke Ippolit Terentjew in Dostojewskis Roman Der Idiot (Orginialtitel: Идиот):
„Wenn man mich schon einmal mit der Möglichkeit ausgestattet hat, zu erkennen, dass ‚ich bin’, dann werde ich wohl auch erkennen dürfen, dass es nicht meine Schuld ist, wenn die Welt mit allerhand Fehlern geschaffen ward und dass sie anders nicht bestehen könnte? Wer also könnte demnach noch über mich zu Gericht sitzen und wegen welchen Vergehens? […] jedenfalls ist das unmöglich und wäre ungerecht!“
Weder beim Lesen der Zamonien-Romane noch in entsprechenden Nahtod-Momenten geht es darum, die Dinge (bzw. Phänomene…) in gut oder schlecht einzuteilen. Vielmehr wird eine Betrachtungsweise angeboten, welche den Kontakt mit der oft unangenehmen Wirklichkeit erträglich macht. Analog formuliert die zamonische Daseinsform Nathaviel (ein Anagramm für „Leviathan“), auch bekannt als Der Bücherdrache:
„Es gibt ein Zwischenreich zwischen Schönheit und Schmerz, welches man Melancholie nennt. Auch so ein schönes Wort, es klingt wie eine kranke Blume!“
Um nochmals abzuschweifen: wenngleich völlig anders konnotiert, liegt eine ähnliche Phänomenologie, wie Zamonien sie gebraucht, um den beschriebenen Effekt zu erzielen, auch Miévilles Baslag zugrunde. Die Baslag-Romane lassen sich dem surrealismusnahen Genrekonstrukt des New Weird zuordnen: und auch andere New-Weird-Werke tendieren in diese Richtung (aus der Feder Jeff VanderMeer gibt es sogar ein eigenes kleines Manifest zu lesen, das ähnliche Thesen bereitstellt). Dies gilt etwa für Leena Krohns Briefroman Tainaron oder das Videospiel Control. Um weiter abzuschweifen: beide Werke stammen aus Finnland – die Assoziation mag blanker Unsinn sein, doch auch das finnische Nationalepos Kalevala (im 19. Jahrhundert auf Basis von Volksgedichten zusammengestellt von Elias Lönnrot) weist eine in Ansätzen ähnliche metaphysische Sicht auf. Verglichen etwa mit der nordischen oder griechischen Mythologie scheinen viele der von Lönnrot aufgregriffenen Ereignisse und Figuren derart grotesk und willkürlich, dass es an handfesten Surrealismus grenzt:

Um eine hungrige Hochzeitsgesellschaft zu füttern, muss ein Stier geschlachtet werden, der so groß ist, „dass eine Schwalbe einen Tag braucht, um von einem Horn zum anderen zu fliegen und ein Eichhörnchen vom Maul bis zur Schwanzspitze einen Monat zu laufen hat“. Der weibliche Luftgeist Ilmatar befruchtet sich mehr oder minder selbst, um dann nach 730 (!) Jahren ein Kind zu gebären: den Helden Väinämöinen. Dieser führt später unter anderem Verhandlungen mit Eisen – nicht etwa mit dem Gott oder Geist oder Herrn des Eisens, mit einem Sprechenden Klumpen Eisen oder einem sonstwie befugten Stellvertreter, sondern direkt mit dem allgemeinen Konzept (bzw. Phänomen bzw. Hyperobjekt) der Substanz Eisen, das fähig ist, Wünsche zu äußern und Versprechen zu geben. Die Mutter des zerstückelten Helden Lemminkäinen fischt Stücke ihres Sohnes mit einem Rechen aus dem Totenfluss, um ihn anschließend zusammenzukleben und zu reanimieren wie Osiris. Betrübt über den Tod seiner Gattin schmiedet ein Typ namens Ilmarinen eine destruktive Metallfrau, welche verdächtig der Maria-Maschine aus Metropolis oder vorangegangenen Phantasien von Mensch-Maschinen aus Lönrotts Ära ähnelt – etwa Olimpia aus Der Sandmann. Dies und mehr gestaltet sich so absurd, dass man es – wie Moers’ Schilderungen Zamoniens – entweder unhinterfragt annehmen oder die innere Plausibilität der Erzählung komplett in Zweifel ziehen muss. Allerdings mag dieser Effekt Lönnrots (Re)Konstruktion der ursprünglichen Mythologie oder deren konsumfreundlicher Nacherzählung geschuldet sein, auf die ich mich hier beziehe. Damit genug der Abschweifung.

Kurzum: wie die Welt Zamoniens beschaffen ist, lädt dazu ein, dieselbe zu betrachten, ohne zu werten oder sich selbst in Bezug zu den Dingen zu setzen. Dies mag im Allgemeinen eine durchaus gefährliche Perspektive darstellen. Die Überlegung, welche ethischen Konsequenzen eine solche Metaphysik hat, kann durchaus beängstigende Früchte tragen. Nicht verantworlich zu sein, lässt sich indirekt als Freibrief lesen, auch keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Eine ähnliche Argumentation gebrauchend haben z.B. manche kaisertreuen Zen-Meister während des Zweiten Weltkriegs buddhistische Techniken (zur Erlangung inneren Friedens durch wertfrteie Betrachtung der Welt) eingesetzt, um japanischen Soldaten moralische Zweifel im Zusammenhang ihnen befohlener Gräueltaten zu nehmen – wie Daizen Victoria in seinem Buch Zen at War darstellt. Ähnlich problematisch ist Heideggers Bezug zum Nationalsozialismus. Wenn man wahrgenommene Phänomene schlicht akzeptieren kann, wie sie eben kommen, kann man auch akzeptieren, dass man z.B. selbst feindliche Soldaten massakriert. Entsprechend auf die Spitze getrieben bedeutet eine solche Perspektive, dass es überhaupt keine Verantwortlichkeit, keine echten Entscheidungen gibt. Auch Nietzsche setzt sich mit dieser Vorstellung auseinander:
„Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. […] Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit.“
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschlies
In Also sprach Zarathustra greift Nietzsche diesen Gedankengang auf. Der Aphorismus Vom bleichen Verbrecher etwa bezieht ihn abstrakt auf das Konzept der Strafverfolgung: wenn man alles, was sich abspielt, sämtliche Phänomene, als gegeben akzeptiert – als notwendige Folgen reiner Kausalität – kann man auch Straftäter:innen ihre Verbrechen nicht zum Vorwurf machen. Strafen zu verhängen rechtfertigt sich bestenfalls durch ihre nützliche Wirkung für die Täter:innen selbst oder die Gesellschaft (die abschreckende Wirkung beugt eventuell anderen Verbrechen vor, zudem kann eine bestrafte Verbrecher:in sich darauf berufen, gebüßt zu haben, um das Vertrauen ihrer Mitmenschen zurückzuerlangen). Somit ist diese Denkweise nicht notgedrungen ein Argument für die Abschaffung sozialer Regeln oder die Duldung von Gräueltaten (ebensowenig natürlich wie der Buddhismus! Das innerer Frieden auch jenen zuteil werden kann, die grässliche Dinge anstellen, muss nicht bedeuten, dass er per se eine schlechte Sache wäre). Gleichwohl ist sie mit Vorsicht zu genießen.
Von Interesse ist hierbei der Fritz-Lang-Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder. In gewisser Hinsicht lässt dieser sich als eine Adaption der Geschichte vom bleichen Verbrecher lesen. Statt eines abstrakten Verbrechers steht allerdings ein pädophiler Kindsmörder vor Gericht. Als von seiner eigenen Sexualität geplagter Triebtäter ist dieser einerseits auch ohne die Frage nach der generellen Existenz oder Nichtexistenz von Verantwortlichkeit ein passendes Beispiel für einen nur bedingt verantwortlichen Menschen. Hinzu kommt, dass das über ihn urteilende Gericht nicht aus klassischen Gesetzesvertreter:innen besteht, sondern aus Bossen der organisierten Kriminalität, denen die Panik im Zusammenhang mit den Kindsmorden ihr Geschäft verdirbt: wie von Nietzsche vorgeschlagen, wird die Strafverfolgung aus reinem Pragmatismus betrieben, nicht etwa um „der Gerechtigkeit“ willen. der Andererseits ist das Verbrechen derart unerträglich, dass die Frage aufgeworfen wird, ob man sich tatsächlich auf eine Sichtweise einlassen möchte, welche ganz auf das Konzept von Schuld verzichtet.
Eine durchaus relevante Erweiterung erfährt das Szenario in David Schalkos Serien-Adaption des Films aus dem Jahr 2019. Zunächst wird die Frage nach Verantwortlichkeit und freiem Willen in den Kontext des Internetzeitalters und seiner omnipräsenten Manipulation durch Medien und Werbeindustrie gesetzt. Hinzu kommt, dass der Mörder kein Pädophiler mehr ist, sondern aufgrund einer komplexen, ordentlich verqueren Weltanschauung mordet: er möchte die Kinder davor bewahren, mit Realitäten des konventionellen Erwachsenenlebens konfrontiert zu werden, die eine kindliche Betrachtungsweise (wie sie auch die Zamonienromane vermitteln) seiner Ansicht nach problematisch bis unmöglich macht. Seine entsprechende Ansprache trieft regelrecht vor Nietzsche-Bezügen:
„Ich bin ein wandelnder Geist. Eine Gattung? Ein neuer Mensch. […] Schlafwandler seid ihr, Ausgestorbene. Die letzten Menschen am Ende ihres Weges.“
Umgekehrt macht einer der Ankläger ihm (und den mit ihm zu gericht sitzenden Verbrechern) zum Vorwurf:
„Du willst uns weißmachen, dass ein Kind überhaupt nicht böse sein kann! Dass ein Kind immer das Recht darauf hat, Kind zu sein. Aber niemand, niemand trägt mehr Schuld als ein Kind, dass nicht erwachsen werden will. Niemand macht die Welt grausamer als all jene, die beschließen, für immer Kind zu bleiben.“
Während bereits bei Lang die Anwendbarkeit einer schuldfreien Weltsicht zur Diskussion gestellt wird, sitzt bei Schalko gewissermaßen Nietzsche selbst auf der Anklagebank.
Zum Gegenwärtigen Stand der Untersuchung Zamoniens ließe sich der dem Mörder gemachte Vorwurf auch auf Moers’ Erzählungen beziehen. Der erste Roman der Reihe, Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär, entspricht recht unmittelbar dem Ansatz, den Helden einer Kindergeschichte einem erwachsenen Publikum vorzuführen – und diesem zugleich zu gestatten, sich beim Lesen in eine kindliche Weltsicht zurückzuversetzen.
Dies gilt auch und besonders, da die Zamonien-Romane dezidiert auf erwachsene Leser:innen abzielen. Zwar spielt Sexualität in den Geschichten so gut wie keine Rolle (abgesehen von Rumo & Die Wunder im Dunkeln, einer spektakulären Liebesgeschichte im Sinne mittelalterlichen Minne-Epen; bei der Sexualität jedoch ebenfalls recht „phänomenologisch“ betrachtet wird: zu Beginn ist dem Protagonisten nicht einmal klar, dass es überhaupt verschiedene Geschlechter gibt, geschweige denn, was „das Wunder der Liebe“ ist, von dem er immer wieder zu hören bekommt). Die meisten Charaktere scheinen weitgehend asexuell zu sein, auch Fortpflanzung und dynastische Erwägungen werden selten relevant. Dafür wird ausgiebig Gewalt geschildert, teils handelt es sich um richtiggehenden Splatter (Blut spritzt, Köpfe und Glieder werden abgetrennt, Daseinsformen fressen andere Daseinsformen bei lebendigem Leibe…). Auch werden umfassend Themen diskutiert, die eine gewisse Kenntnis von Weltliteratur, Wissenschaft, Geschichte und Kunst- bzw. Kulturbetrieb voraussetzen, wie sie jüngeren Kindern vermutlich abgeht. Hier ein Beispiel in furchterregender Bildqualität:
Doch Moers’ Zamonien-Texte gehen darüber hinaus, einen kindlich-phänomenologischen Blick auf „erwachsene“ Themen zu eröffnen. Eine kritische Beurteilung der von den verschiedenen Daseinsformen verkörperten Menschengruppen und Verhaltensweisen wird umgangen – dadurch jedoch wird Raum geschaffen für eine kritische Auseinandersetzung mit anderen, grundsätzlicheren Themen. Themen, deren erzählerische Erörterung im Kontext anderer Erzählwelten (noch) absurd(er) wäre. Beispielsweise verfolgt der Antagonist des Romans Die Stadt der Träumenden Bücher die Absicht, Narrative als solche – sowohl im Sinne von erzählender Literatur als auch im Sinne allgemeiner Glaubenssätze, Weltanschauungen und Werte – gleich komplett abzuschaffen, um ein Zeitalter vollkommener Desillusionierung und geistesklarer Nüchternheit herbeizuführen. Gewiss, restlos größenwahnsinnig, aber der fragliche Antagonist Phistomefel Smeik – ist eine Haifischmade. Unabhängig davon, ob eine nicht-narrative Betrachtung der Realität überhaupt möglich wäre, wird der Gedanke abgelehnt, der Plan durchkreuzt. Der Protagonist entscheidet sich dezidiert GEGEN ein solches Streben – auch, wenn dies u.a. zur Folge hat, die Stadt Buchhaim in Brand zu stecken. Stattdessen wird er, nunja, Schriftsteller.
Noch einmal soll Zamonien mit Miévilles Baslag verglichen werden. Wir erinnern uns: eine Welt, die von ähnlich vielen Spezies bevölkert wird, deren Mitglieder ebenfalls in recht eng gesteckte soziale Nischen hineingeboren werden – damit aber oft nicht zufrieden sind. Dies gilt nicht ausnahmslos – beispielsweise die flugbegabten „Wyrmen“ sind derart minderbemittelt, dass sie in ihrer Tätigkeit als unterbezahlte Paketboten durchaus Erfüllung zu finden scheinen. Auch der technologische Stand Baslags ähnelt dem Zamoniens und analog gibt es zwar grenzwissenschaftliche Phänomene (Paralleldimensionen, Telepathie etc.), aber keinerlei echte „Zauberei“. Miévilles Umgang mit Naturgesetzen (oder z.B. der Funktionsweise von Lochkarten) ist ebenfalls eher lax. In Summe entfaltet Baslag eine ähnliche (Pseudo-)Realitätserfahrung wie Zamonien; ebenfalls wird eine Welt entworfen, die man nehmen muss, wie sie ist oder auch nicht. Es ist allerdings eine schwer erträgliche Welt. Eine Anti-Welt.
An dieser Stelle entscheidend ist (als Ausdruck der je verhandelten Ethiken in Form pragmatischerer Kategorien) die jeweilige Wirtschaftsordnung. In Baslag – allemal in der Stadt New Crobuzon – herrscht eine Art frühkapitalistischer Industriegesellschaft vor, in der Imperialismus, Polizeigewalt und die Ausgrenzung von Minderheiten den Ton angeben (z.B. leben eingewanderte Kaktusmenschen und die käferköpfigen „Khepri“ je für sich zusammengepfercht in Ghettos).

Als Gegenentwurf setzt Miéville eine Reihe reichlich idealisierter kommunistisch geprägter Widerstandsbewegungen in Szene. Dies scheint nur konsequent: China Miéville selbst ist als linker Politiker aktiv (bis 2013 war er z.B. aktives Mitglied der trotzkistischen Socialist Workers Party Großbritanniens). Um nun vergleichen zu können – wie verhält es sich mit den Zamonien-Büchern und Walter Moers im Allgemeinen?
Zunächst einmal ist Moers weit davon entfernt, als Person des öffentlichen Lebens in Erscheinung zu treten. Er hält keine Lesungen, tritt nicht bei Veranstaltungen auf. Vom Yeti und dem Monster von Loch Ness gibt es vermutlich mehr Fotographien. Einerseits mag dies darauf zurückzuführen sein, dass er seit Publikation der Adolf-Comics Drohbriefe von Rechtsradikalen erhalten soll. Andererseits wird von Mitgliedern seiner Fangemeinde teils spekuliert, ob Walter Moers überhaupt eine reale Person oder vielmehr ein Pseudonym ist, unter dem eine:r oder mehrere andere Schriftsteller:innen und/oder Zeichner:innen publizieren. Wie dem auch sein: Moers – ob nun Person oder Kollektiv – neigt tendenziell ebenfalls dazu, in seinen Erzählungen ein verhältnismäßig progressives Weltbild zum Ausdruck zu bringen.
So unterjocht der Bösewicht Feinfinger das Volk der „Wellenzwerge“ in Käpt’n Blaubär – Der Film, indem er sie mit der Alternative einschüchtert, ohne adäquate Ausbildung und Sozialversicherung dem Arbeitsmarkt des „kapitalistischen Ozeans“ ausgesetzt zu sein. Schlussendlich stürzen nicht Blaubär sondern die Wellenzwerge Feinfinger, indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und mit vereinter Kraft akzeptable Arbeitsbedingungen durchsetzen. Allerdings gähnen einzelne Zwerge immer wieder, während der gewählte Sprecher ihre Vorderungen verkündet: die Überwindung ausbeuterischer Verhältnisse wird nicht als aufregender Lebensinhalt inszeniert, sondern eher als die Beseitigung leidiger Misstände, welche von spannenderen Dingen ablenken.
Im Fall von Zamonien ist die Darstellung differenzierter. Wie kulturell und technisch unterscheiden sich die einzelnen Regionen auch wirtschaftlich stark. Im Allgemeinen scheinen Marktmechanismen in Kraft zu sein, diese führen jedoch nicht zu Fortschritt nach modernistischem Verständnis. Vielmehr scheint die Gesellschaft sich in einem endlosen Zustand zyklischer Entwicklung und Rückentwicklung zu befinden. Stämme, Stadtstaaten und ganze Zivilisationen steigen auf, erreichen kulturelle Höhen und zerfallen wieder bzw. werden von Konkurenten verschlungen. Bezogen aufs große Ganze herrscht eher Stagnation als Wandel. Ein wenig wie bei Oswald Spengler, ohne dessen erzkonservative „Zuversicht“, dem endlosen Werden und Vergehen durch Technokratie oder die Errichtung autoritärer Imperien entgehen zu können. Auf sehr lange Sicht mag eine flächendeckende Verbreitung neuer Erkentnisse und Erfindungen in Zamonien stattfinden, doch den einzelnen Daseinsformen bringt dies innerhalb ihrer (im Fall vieler Gattungen durchaus Jahrhunderte umspannenden) Lebensspannen nicht allzu viel. Im Gegenteil, eher neigen die endlosen Konkurrenzkämpfe dazu, individuelle Pläne zu durchkreuzen. Oder sie zu befeuern: das Ganze weist Ähnlichkeiten mit einer großen Partie Glücksspiel auf.
In diesem ziellosen Daseinsstrudel finden sich jedoch stabile Blasen mit regelrechten kleinen Utopien, die meist unausgesprochen in eine sozialistische Richtung tendieren. Beispielsweise die klassenlose Gesellschaft der Buchlinge gedeiht prächtig, ohne zu expandieren oder zu kollabieren. Da ihre Grundbedürfnisse (Literatur, Wohnräume, Energieversorgung) in dem unterirdischen Höhlensystem, das sie bewohnen, überreichlich gedeckt sind, scheint kein Bedarf nach komplexer Organisation durch Hierarchien zu bestehen. Ganz ähnlich bewohnen die Lindwürmer eine natürliche Felsformation (die „Lindwurmfeste“), die aufgrund geothermaler Strömungen stets geheizt ist und von sich rasch vermehrendem Getier („Steinwürfchen“) bevölkert wird, das als Nahrungsquelle dienen kann. Somit autark sind alle Lindwürmern in der Lage, ein individualistisches Künstlerdasein zu führen, ohne dass jemand sich (ausschließlich) mit pragmatischen Belangen befassen müsste. Das Leben in der Stadt Wolperting abschließend – Überraschung: Heimat der Wolpertinger – wird nicht von Marktvorgängen geregelt, sondern durch ein kollektiv getragenes System von Pflichten, Rechten und Ehre. Die Wolpertinger müssen sich stärker um ihre Versorgung kümmern, teilen die nötigen Arbeiten aber möglichst gleich untereinander auf. Allen drei Gesellschaften ist gemein, dass sie sich regelmäßig gegen das äußere Chaos zur Wehr setzen müssen.
Auch im Individuellen scheint Erfüllung in Zamonien durchaus möglich: Eydeeten gehen in ihrer Forschung auf, Natifftoffen genießen (vermutlich) ihr Beamtenleben und allemal der Wolpertinger Rumo findet klassischen Konventionen der Minne-Dichtung zum Trotz schließlich zu einer glücklichen, geistig wie körperlich erwiederten Liebesbeziehung. Die jeweiligen Wege zum Glück scheinen nie allen offenzustehen, für manche Daseinsformen mag es auch keine geben. Eine gewisse Prise Isolationismus schwingt (wie bei Moers selbst) mit. Dennoch scheinen die meisten Zamonier im Wesentlichen mit ihrer Welt zufrieden. Kurzum: die Wellen der Zivilisation kommen und gehen, doch solange die beidseitigen Ausschläge innerhalb eines gewissen Spektrums verbleiben, macht eine Prise Melancholie (oder gar Humor) möglich, Gutes wie Schlechtes wertzuschätzen und sich auf das zu konzentrieren, was den eigenen Tendenzen entspricht. Mehr noch: solange man fähig ist, sich an Geschichte(n) zu erfreuen, ist ein entsprechend spannendes, wendungsreiches Weltgeschehen nicht nur etwas, das ertragen werden kann, sondern regelrecht genießbar. Allemal, wenn man es als geneigte Beobachter:in rezipiert (wie die Buchlinge), es künstlerisch oder wissenschaftlich interpretiert (wie die Lindwürmer und Eydeeten) oder daran als Abenteurer:in selbst teilnimmt (wie allemal der Wolpertinger Rumo: und auf ihre viel trockenere Weise auch die natifftoffischen Finanzbeamten). Selbst Haifischmaden leisten im Nützlichen wie im Schädlichen ihren Beitrag – und letztlich werden sie dafür honoriert.
„
Ojahnn Golgo van FonthewegDer Zweck des Lebens ist das Leben selbst.”
Wirtschaftliche Aspekte werden dabei vorwiegend implizit verhandelt, statt sich als zentraler Bewertungsmaßstab aufzudrängen – anhand dessen gemessen Zamonien ggf. ähnlich bedrückend erscheinen würde wie New Crobuzon. Während Miéville mit Baslag eine fast durchgehend defizitäre Welt schildert, um gleichzeitig eine attraktivere aber dem Anschein nach nicht oder bloß äußerst schwer erreichbare Alternative in Aussicht zu stellen, bietet Moers mit Zamonien die Vorstellung einer weder durchgehend guten noch schlechten Wirklichkeit, die man im Wesentlichen so akzeptieren kann, wie sie ist. Gerade darum aber scheint lohnend, sie zu verteidigen, wann immer die Ausschläge des Geschehens das habitable Spektrum verlassen: faktisch ist diese Notwendigkeit Aufhänger für die Abenteuer der meisten zamonischen Roman-Protagonisten.
„Damit das Spiel der Mächte fortbesteht und damit du deinen Vers dazu beitragen kannst.“
Walt Whitman
Somit geht der Zamonien-Kosmos einen Mittelweg: die vermittelte kindlich-phänomenologische Weltsicht wird dadurch legitimiert, dass sie nur innerhalb gewisser Grenzen angewandt wird – was sich umgekehrt rechtfertigt, da dies widerum erlaubt, eben diese Weltsicht aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu beispielsweise Baslag verhandelt Zamonien nicht, ob die Welt gerettet werden sollte, sondern wann und wozu. Maßvoll, aber entschlossen. Miévilles Welt drückt (wohl kaum zu unrecht) aus, dass etwas schief läuft. Moers hingegen entwickelt vermittels Worlbuilding Messinstrumente, um zu bestimmten, wann genug genug ist und wann zu viel zu viel. In jedem Fall geht damit ein Ziel einher, Vision, Zuversicht. Die vermeintliche Amoral ist Grundlage einer Metamoral.
Um mit dem Nudelholz zu philosophieren: bezogen auf die realen gesellschaftlichen Probleme des 21. Jahrhunderts ließe sich daran anknüfend argumentieren, dass beispielsweise Klimawandel, mandelnde soziale Absicherung und extreme Ungleichheit eben darum überwunden gehören, damit man seine Zeit anders verbringen kann als mit ermüdenden Scheindebatten darüber, ob nun wohl „Kommunismus“ oder „Kapitalismus“ besser zur Überwindung entsprechender Missstände geeignet seien. Ganz ähnlich argumentiert Slavoj Žižek:
„Egalitarianism often de facto means I am ready to renounce something so that others will also not have it. This is […] the problem with political correctness. […] Should we then drop egalitarianism? No. Egalitarianism can also mean, and that’s the quality I advocate, creating the space for as many as possible individuals to develop their different potentials. […] I see healthcare and education and so on as enabling me to focus my life on more important creative issues. I see equality, this basic equality of chances, as a space for creating differences and yes, why not, even different more appropriate hierarchies.“
Tja, nun. Das Worldbuilding Zamoniens bereitet gute Laune und die zugehörigen Erzählungen geben Anregungen, was man damit anfangen kann. Darum wirken die Bücher wohltuend.
Robert Boehm, Leipzig, 02.02.2022. Letzte Revision am 02.02.2022.
Bildquellen: Pixabay.com, Shutterstock.com, Wikimedia Commons
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