Ein Date mit Daniel Plainview: (in) My Summer of Love, There Will Be Blood

Sie haben mich durchschaut: ein neues Kapitel meines manischen Bestrebens, jeden Film zu besprechen, in dem noch irgendwo Nietzsche zitiert wird. Diesmal: There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson und My Summer of Love – von Pawel Pawlikowski. In gewisser Hinsicht zweimal der gleiche Film: noch eine Anomalie, in der 1 + 1 erneut 1 ergibt – oder zumindest nicht (ganz) 2. Dann vorwärts, Marsch! Auf geht’s!

Der Bohrrichtung dieses Artikels folgend zunächst There Will Be Blood. Zwar ist der Film Jahrgang 2007 und damit jünger als My Summer of Love (2004). Allerdings ist die Handlung früher angesiedelt (Fin de Siècle bis große Depression, alles im knochentrockenen Kalifornien) und der Film thematisiert den Beginn eines Kreislaufs, der in My Summer of Love zum n-ten Mal nachvollzogen zu werden scheint. Als lose Adaption von Upton Sinclairs Roman Oil!. In Genrebegriffen Drama und Western.

Ein hochinteressanter Film in vielerlei Hinsicht; beispielsweise tragen die beiden Hauptfiguren des Films dieselben Vornamen wie ihre jeweiligen Darsteller: Daniel Day-Lewis spielt Daniel Plainview, Paul Dano gibt Paul (und Eli) Sunday. Ein Brecht’scher Verfremdungseffekt (siehe HIER im Mittelteil und HIER ganz unten) für Eingefleischte? In jedem Fall ist There Will Be Blood, mindestens hinsichtlich seines Protagonisten, ein repräsentativer Paul-Thomas-Anderson-Film: ambivalente Unternehmer-Typen ziehen sich als seidener Faden durch dessen Œuvre, etwa in Phantom Thread, Magnolia, Punch-Drunk Love und zuletzt Licorice Pizza.

Nun, wer ist dieser Daniel Plainview? Sie werden nicht wiedersprechen, wenn ich sage: er ist ein „Ölmann“. Mutterseelenallein hat er in der Wüste genügend Gold ausgebuddelt, um ins Ölgeschäft einzusteigen – erst bloß mit einer Handvoll Kompagnons, bald als hemdsärmliger Investor, der weiter selbst am Bohrloch steht. Er ist noch einer der zupackt. Bzw. zuschlägt. Ihm kann man nicht vorwerfen, die „soziale Hängematte“ abzulehnen, da er in Wahrheit Angst vor echter Konkurrenz hat. (Sie wissen schon: Wer weich fällt, der kann hoch steigen.) Nein: er gründet sein Imperium – gerade weil er Konkurrenz liebt, weil er sie braucht, weil ihm ohne jemanden zum Vernichten der Anreiz fehlt, morgens vom Boden aufzustehen (denn unser Mr. Plainview ist einer, der konsequent das weiche Bett verschmäht, um mit Whiskeypulle in der Pranke auf hartem Grund zu nächtigen; geophil, durch und durch). Kurzum: Geld verdienen ist für ihn kein Zweck in sich, sondern bloß ein Behelfsmittel, um andere, ihm mehrheitlich zutiefst verhasste Mitglieder der Menschheit in den Staub zu treten – und irgendwann, reich genug, gar niemanden mehr sehen zu müssen. Ein fieser Kerl, der die Gesellschaft voranbringt, eben weil er sie nicht leiden kann. Oh ja, er ist – ein Monopolist.

Fleißig am Fördern bekommt dieser Daniel Plainview Besuch: von einem schüchternen jungen Mann namens Paul Sunday. Für ein paar Hundert Dollar verrät dieser ihm eine Gegend, in deren Boden so viel Öl schlummert, dass es bei Erdstößen zutage quillt. Paul nimmt das Geld – und wardt nie mehr gesehen. Daniel aber folgt dem Hinweis in die Gemeinde Little Boston, ein elendes Nest im Nirgendwo. Tatsächlich stößt er dort auf einen subterranen Ölsee, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Mit einem putzigen kleinen Jungen an seiner Seite, vorgeblich sein Sohn (sehr wahrscheinlich aber das hinterbliebene Kind eines Arbeiters, der bei Daniels erster Ölbohrung von einem Unfall hinweggerafft worden ist), ist es ein leichtes, die Einwohner des Städtchens davon zu überzeugen, ihm als verantwortungsbewusstem Familienmenschen ihr Land zu verhökern. Skeptisch reagiert eigentlich nur Pauls Zwillingsbruder Eli, welcher letztlich unter der Bedingung zustimmt, dass Daniel ihm Geld für den Bau einer Kirche spendet, in der er als Prediger aufzutreten gedenkt. Es bleibt im Vagen, ob es tatsächlich einen Zwillingsbruder gab, oder ob „Paul“ nicht einfach Eli war (immerhin: die Sache mit den Darstellernamen; auch ist „Eli“ ein Anagramm für „Lie“ – deutsch: „Lüge“).

Die fröhliche Wissenschaft schreitet zur Tat, schnell steht der erste Bohrturm und das schwarze Gold sprudelt. Die Einheimischen werden zwar ausgenutzt – dennoch steigt ihr Lebensstandart ganz beträchtlich. Eine Schule entsteht, ehedem unfruchtbarer Boden wird urbar gemacht – und endlich kommen die Menschen in den Genuss, Brot zu essen (nicht auszudenken, was sie vorher gegessen haben mögen). Alles scheint formidabel, auch Elis/Pauls Kirche floriert. Doch Daniel weigert sich, ihm die versprochene Spende zukommen oder ihn wie erbeten die Ölquelle segnen zu lassen. Unweigerlich kommt es zu einigen Unfällen. Angezogen vom Gestank des schnellen Geldes treten weitere Personen und Akteure in Erscheinung. Und Stück für Stück entbrennt eine bittere Feindschaft zwischen Daniel und Eli: denn eins hasst Daniel mehr als Menschen – und das ist Religion.

Statt auszuführen, wie sich all das entspinnt: My Summer of Love. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Helen Cross. Kino-Debüt der beiden Hauptdarstellerinnen Natalie Press und Emily Blunt. Teils eingestuft als Coming-of-Age-Film mit lesbischer Liebesgeschichte: was jedoch zahlreiche Dimensionen der Erzählung ausblendet. Noch absurder ist die partielle Einstufung als Erotikfilm; Emily Blunt liefert in ganzen zwei Szenen Anschauungsmaterial für den Anatomieunterricht – hier das Erotiklabel zu vergeben ist Prüderie. Treffender wäre, den Film als Kammerspiel (mit etwas Auslauf im Grünen) um soziale Realitäten und Identitäten zu klassifizieren.

Irgendwann, irgendwo im dialektgebeutelten Norden Englands. Ein malerisches Tal, eine emsig qualmende Fabrik. Drumherum ein Arbeiterstädtchen in schäbigen Grau- bis Brauntönen. Materialität wird hier klein geschrieben, der Alltag vor der hübschen Bergkulisse wirkt entschieden trist. Verfall als selbstreproduktiver Dauerzustand. Der einzige Pub des Orts, „The Swan“, hat gerade dichtgemacht, weil sein Betreiber Phil nach einem Gefängnisaufenthalt zu Gott gefunden hat und anstelle des Ausschanks nun ein „spirituelles Zentrum“ errichten möchte. Phils jüngere Schwester, ein quirliger Wildfang namens Mona, ist von dem Sinneswandel nicht gerade begeistert, zudem macht ihr Freund – ein etwa zwanzig Jahre älterer, ebenso verheirateter wie bierbäuchiger Bierzelt-Barde – denkbar herablassend mit ihr Schluss. Mehr oder minder zufällig lernt Mona Tamsin kennen: die zunächst so etwas wie die Antithese der ihr bekannten Welt zu verkörpern scheint.

Aufgrund ihres „schlechten Einflusses auf ihre Mitschüler“ zeitweilig vom Internat suspendiert, verbringt Tamsin den Sommer allein im Anwesen ihrer Familie: einem efeuumschlungenen kleinen Palast, hoch droben über der Stadt, aber mit bester Aussicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit die zur Fabrik gehörige Fabrikantenvilla. Tamsin ist reich, schön, charismatisch, geheimnisvoll und einschüchternd gebildet. Eine jugendliche Femme Fatale, ein Amalgam von Hochkultur und messerschafem Raubtier-Intellekt (ich bin fast sicher, dass sie sich trefflich mit Thanalis und ihren Droogs aus Walhalla brennt verstehen würde). Bestenfalls – ein wenig überdrüssig.

Bezeichnend ist schon die erste Begegnung der beiden: Mona hat „von Zigeunern“ ein altes Motorrad ohne Motor gekauft, es den Berg heraufgeschoben, sich wieder herabrollen lassen – und eine Bruchlandung im Gras vollbracht. Tamsin kommt zufällig auf ihrem Pferd vorbeigeritten. Beide scheinen je zu verkörpern, was die andere in ihrer Lebenswelt vermisst. In der erdrückenden Hitze des Sommers entwickelt sich eine klassenübergreifende Freundschaft, die Stück für Stück zur Romanze avanciert. Indes vergrößert Phil seine Gemeinde, zimmert aus alten Schuhschränken ein Gipfelkreuz und schleppt es auf den Berg gegenüber von Tamsins Villa. Den Umtrieben seiner Schwester steht es zunächst eher tolerant gegenüber – doch Tamsin weitet ihr Spiel aus und legt es umgekehrt darauf an, seinen Glauben ins Wanken zu bringen. Ohne unnötig vorgreifen zu wollen: nicht nur in dieser Hinsicht ist ihr Spiel ein doppeltes…

Man muss nicht Wolfgang M. Schmitt sein, um zu begreifen, dass There Will Be Blood von dem handelt, was Marx als „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ bezeichnet. Der gewaltsamen Erschließung ehedem nicht kapitalistischer Güter, Territorien und Menschen für den kapitalistischen Markt. Davon, wie aus Elend erzwungenermaßen Reichtum, Wohlstand und mehr Elend entstehen. Um kapitalistisches Wirtschaften schließlich auf die elegante Formel zu bringen:

„Ich trinke deinen Milchshake! Sccccchhhrllllp!“

Selbstredend entspricht auch der Konflikt zwischen Daniel und Eli auf einer gewissen Ebene der Marx’schen Logik. Ohne allzusehr ins Detail zu gehen: für Eli (und ebenso für Phil) nimmt die Sache kein gutes Ende. Um (nochmals) freimütig das Manifest der Kommunistischen Partei für die Verwertung im Sinne dieses Artikels zu akkumulieren:

„Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“

Jedoch schein Religion weder in There Will Be Blood noch in My Summer of Love – auf den wir gleich noch zu sprechen kommen – so etwas wie einen Gegenentwurf zur hundsgemeinen Kapitalanhäufung zu bilden. Eli wirft Daniel vor, ihm das versprochene Geld nicht auszuzahlen und sich auf familiärer Ebene zu versündigen: nicht, dass er sich die Erde Untertan macht und die Einwohner:innen Little Bostons ihrer Lebensart entfremdet (worauf sie massenhaft in seine Kirche fliehen). Die Gläubigen sind ganz im Sinne des Zitats Opfer des Kapitalismus – Opfer mit Stockholmsyndrom. In dieser Hinsicht sind auch die Feindseligkeiten zwischen Eli und Daniel letztendlich ein Scheinkonflikt. Ablenkung. Auch dies war bereits Marx bekannt:

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. […] Die Religion ist das Opium des Volkes.“

Derselbe Scheinkonflikt wird in My Summer of Love kongenial in Bildsprache übersetzt: Phils Gemeinde schleppt sein improvisiertes Kreuz auf den Berg, verschwindend klein und unbedeutend in einer Panoramaeinstellung der Landschaft – während im Vordergrund der endlos rauchspeiende Fabrikschlot aufragt. Man kann sich denken, dass dergleichen nicht zum ersten Mal geschieht. Vielleicht ruft alle paar Jahre ein Enthusiast wie Phil die Einkehr der Liebe im Tal aus, deren Mahnmäler dann langsam der britischen Witterung zum Opfer fallen, verfaulen, ersetzt werden: während die Produktion unbeeindruckt ihren Lauf nimmt.

Unter bestimmten Bedingungen lässt sich auch Daniels und Tamsins Verachtung den Gläubigen gegenüber dementsprechend deuten: weniger als Wut auf einen lästigen Gegner sondern vielmehr als Selbsthass. Hierbei ist von Interesse, dass die Gemeinden in beiden Filmen explizit protestantisch sind. Und somit ganz im Geiste von Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus Fleiß preisen und Müßiggang verurteilen – um somit eben jene sozialen Bedingungen zu schaffen, in denen Akkumulation gelingen kann. Vereinfacht ausgedrückt: Kapitalismus ist gut, solange brav gebetet wird. Doch weder Daniel noch Tamsin wollen gut sein. Ihren Unmut erregt nicht etwa, dass sich ihnen etwas oder jemand ernsthaft in den Weg stellt – sondern, dass der Widerstand derart halbherzig daherkommt, dass sie um den Genuss einer echten, sinnstiftenden Feindschaft betrogen werden. Sie kämpfen gegen das moralische Deckmäntelchen, welches ihr proaktiv unmoralisches Verhalten gegen ihren Willen zu rechtfertigen sucht. Dieser Wesenszug macht beide sehr konkret zu Nietzsche-esken Charakteren, wovon später noch reichlich die Rede sein wird.

Zurück auf Anfang: There Will Be Blood erzählt die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. My Summer of Love erzählt dieselbe Geschichte, bloß ein paar Generationen später. Man könnte sich vorstellen, dass jemand wie Daniel Plainview Tamsins Ur-Ur-Ur-Großvater war – nun käme er zu spät. Grund und Boden sind restlos aufgeteilt, seine Bewohner:innen sortiert nach Arbeiter:innen und Kapitalist:innen, alle Märkte erschlossen. Der Reichtum ist längst geschaffen und döst im eigenen Luxus. Wie die Arbeiter:innen von ihrer Arbeit ist man selbst nun von deren Ausbeutung entfremdet. Oben Langeweile, unten Elend, Stagnation. Es gibt nichts Neues zu akkumulieren – abgesehen vom Seelenleben der nächsten Generation armer Teufel. Wie Hannah Arendt feststellt, bietet jede Geburt, jedes frische Leben, die Chance auf einen spirituellen wie kulturellen Neubeginn. Wenn alles Faktische vom Kapital akkumuliert ist, bietet eben dieses Potenzielle, potenziell außer-kapitalistische – neue Beute. Beute, auf die man sich stürzen kann, solange man eben gerade vom Internat suspendiert ist. Nichts zu befürchten, nichts Nennenswertes zu erreichen: also spielt man die ursprüngliche Akkumulation einfach zum x-tausendsten Mal nach, nun eben auf emotionalem Territorium. Und faselt dazu ein wenig von Nietzsche, wir kennen das, ewige Wiederkehr. wie versprochen: unten mehr.

Nach Slavoj Žižek ist die emotionale Ausbeutung der ansonsten bereits bis zum Letzten ausgequetschten Arbeiterklasse durch emotional vergreiste Kapitalist:innen ein gängiges, oft unangebracht glorifiziertes Motiv im Hollywood- und Mainstreamkino. Beispielsweise in The Pervert’s Guide to Ideology unterstellt er der reichen Rose aus James Camerons Titanic, den armen Jack dahingehend auszunutzen. Auch wenn am Ende nicht der Eisberg käme, wäre die Affäre der beiden wohl kaum von Dauer; und wenigstens ihr muss das auch allzu bewusst sein. Dennoch nutzt sie bereitwillig die Gelegenheit, sich von seiner naiven Vitalität anstecken zu lassen – sie saugt ihn aus wie ein Vampir. Mit Erfolg: noch im hohen Alter zehrt sie davon, kann den all die Jahre aufbewahrten Diamanten (der sie an ihn erinnert) ins Meer schmeißen, um ihr Herz höher schlagen zu lassen und sich rebellisch zu fühlen: statt ihn zu verkaufen und mit dem Erlös z.B. den Welthunger zu bekämpfen oder Forschungsprojekte zum Stopp des Klimawandels zu finanzieren. Wobei, wenigstens, dass sie sich nicht mehr für den Schutz von Eismassen begeistern kann, scheint nachvollziehbar.

Um anlasslos der Genremetapher zu folgen: wenn Tamsin ein Vampir ist, ist Daniel Plainview ein Werwolf; keine zeitlos lethargische Daseinsform, sondern ein triebhaft-selbstzerstörerisches Verglühen. Statt die vielzitierte Kerze bei möglichst wenig Sauerstoff möglichst langsam abbrennen zu lassen (oder von anderen frisches Wachs zu stehlen) schmeißt man sie munter in einen Hochofen. Kein efeuumranktes Palais sondern ein lichterloh brennender Bohrturm. So oder so: beides ansteckende Archetypen der (Horror-)Folklore.

Apropos ansteckend: Daniel erklärt seinem (vermeintlichen) Bruder, der ihn zeitweilig besucht, seine Triebfeder, den Hass auf die Menschen, von seinem Vater geerbt zu haben – und dieses Erbe so beherzt angetreten zu haben, gerade weil er sich mit seinem Vater nicht verstanden und daher alleine aufgebrochen sei, um sich unabhängig zu machen. Als sein Sohn (evtentuell ist es auch tatsächlich sein leiblicher Sohn: das Kind des Arbeiters ist, allemal als Baby, blond, der hier gemeinte Junge, den im Schlepptau er loszieht, um Land zu kaufen, ist schwarzhaarig wie er selbst) ihm schließlich gesteht, sich vom väterlichen Unternehmen unabhängig machen und in Mexiko eine eigene Ölfirma gründen zu wollen, reagiert er unverhältnismäßig zornig. Er verstößt den Jungen – ein schon zuvor durch Eli gegen ihn erhobener Vorwurf, der ihm zu fraglicher Gelegenheit durchaus zu Herzen zu gehen schien – und konfrontiert ihn höhnisch damit, (angeblich) eine Waise zu sein. Nichts von sich selbst könne er in dem Jungen wiedererkennen. Dies ist entweder (nur) gnadenlos gemein, oder Daniels verquere Vorstellung von fürsorglicher Vaterschaft: verschafft er ihm damit doch nahezu dieselbe Ausgangsstellung, die er persönlich stets als Legitimation und Ansporn empfunden hat. Die Voraussetzung für Akkumulation – anstatt fürs bloße Verwalten des bereits Akkumulierten. Der infektiöse Biss des Werwolfs. Abhilfe gegen heraufdämmernde Entfremdung, wie Daniel selbst sie offenkundig spührt: nunmehr Besitzer einer kolossalen Villa schläft er noch immer am Boden, sabbert das Parkett seiner Bowling-Bahn im Keller voll, anstatt vom zweifelsfrei vorhandenen Doppelbett Gebrauch zu machen.

Allem Anschein nach ist das Werwolfsvirus mutagen – wird über Generationen schließlich endemisch, zum Vampirismus. Denn auch Tamsin leidet am Verhalten ihres Vaters, das sie zugleich reproduziert (im Gegensatz zu Daniels Vielleicht-Sohn aus eigenem Antrieb – verständlich: die Literatur strotzt nur so vor erfundenen Leuten, die gerne Vampir werden möchten – man denke allein an den immerhin von Tom Waits gespielten kakerlakenfressenden Diener in Bram Stokers Dracula – doch wann wollte jemand schon freiwillig Werwolf werden?). Er betrügt seine kultivierte Ehefrau mit seiner Sekretärin – einer Blondine aus der Arbeiterklasse, die Tamsin in jeder Hinsicht als vulgär empfindet. Eventuell erfindet sie die Geschichte auch bloß und täuscht ihren Zorn nur vor, um die offensichtlich für entsprechend rebellische Sozialromantik empfängliche Mona um den Finger zu wickeln – doch in jeder Lüge steckt auch Wahrheit, etwas von demjenigen, dessen Phantasie sie ausgespien hat. Selbst, wenn erfunden: Tamsin stünde dieser Art Beziehung ablehnend gegenüber. Und amüsiert sich analog mit Mona – die Konstellation ist allzu ähnlich. Zum Glück sind da der davon unbeeindruckte Phil und seine christliche Doppelmoral, die man bekämpfen kann.

Werwölfe, Vampire … na klar, fehlen Zombies. Kein Problem. In Monas/Tamsins Modern Times muss die Produktionslinie nicht mehr aufgebaut und eigentlich auch nicht mehr mit Gewalt erhalten werden. Die Arbeiter:innen scheinen ihren Kampfeswillen eingebüßt zu haben, wenn überhaupt gehen sie aufeinander los (Phil scheint eher nicht im Knast gewesen zu sein, weil er zum Generalstreik aufgerufen hat; wahrscheinlicher ist, dass er einem zechebrellenden Kunden des „Swan“ die Nase gebrochen hat oder Ähnliches; aber wir können nur raten). Die Industriegesellschaft hat sich eigentlich längst überlebt, schleppt sich ohne Fortschritt dahin, als lethargischer Moloch. Im Grunde leben Mona und Tamsin in Ruinen, in einer UNTOTEN Wirtschaft, gefangen im Schwebezustand irgendwo zwischen Renaturierung bzw. Kompostierung und totalem Kollaps.

Aus heutiger Sicht könnte man meinen, der Film spiele allzu prophetisch nach einer Finanzkrise wie der von 2008, in einem Kapitalismus, der nicht länger von der eigenen Produktion genährt wird, sondern sein Unleben dank der ausgenutzten Kraft der Kollektivgesellschaft aufrechterhält, welche dies im Wesentlichen aber nicht begreift, da sie – wenn überhaupt – in Klassenkampf-Kategorien nach alter Väter Sitte denkt. Beherrscht nicht von aufstrebenden Mächten wie Daniels Ölfirma, denen immerhin noch die Genugtuung bleibt, sich zu bereichern, indem sie etwas erschaffen, sondern von Zombie-Unternehmen, die sich nicht mehr von Verkauf von Rohstoffen oder daraus gefertigten Erzeugnissen ernähren, sondern von Ausschüttungen der Finanzmärkte – oder von staatlichen Hilfsprogrammen, die implizit auch die besagten Finanzmärkte am Rollen halten.

In einer solchen Zombieapokalypse gilt es nicht länger, den Werwolf zu finden und ihm eine Silberkugel zu verpassen oder der Vampirin den bewährten Pflock ins Herz zu rammen. Solange die finanzielle bzw. finanzpolitische Dimension nicht mitgedacht wird, solange die gesellschaftliche bzw. politische Dimension verkannt bleibt, verkommt guter alter Klassenkampf gegen direkte Ausbeutung der Arbeiter:innen zur bloßen Ablenkung. Genau wie Religion nach Marx. Wozu streiken, wenn dem Arbeitgeber letztendlich egal sein kann, ob tatsächlich gearbeitet wird? Wenn sich die Produktion nicht mehr lohnt, weil bei den Arbeiter:innen nur zu holen ist, was man ihnen gibt, während die Bank einen anfleht, ihr Geld zu nehmen, da sie sonst netative Zinsen zahlt? Die Wirtschaft ist kein Schiff mehr, dessen Crew ohne die Peitsche des gestrengen Captains – vielleicht sogar besser – segeln könnte: eher ein Vehikel wie der Snowpiercer, das auf rostenden Schienen im Kreis düst, auf der Flucht vor sich selbst, aus Furcht vorm Anhalten, mit einem Lokführer, der seine Passagiere wie eine Schiffscrew unsinnigerweise zwingt, „das Deck zu schrubben“, damit sie vor Wut darüber ausblenden, wie fatal die Lage wirklich ist.

Wenn eine zweite Mutante des Werwolfsvirus’ zu Zombies führt, ist ein Bündnis – oder gar Date? – mit Vampir:innen gar nicht mehr derart abwegig. Gewiss bleiben sie auch selbst Täter:innen, doch zunehmend sind sie gleichzeitig Opfer. Opfer dessen, was sie entfacht haben. Der fatalistische Lockführer hat mehr zu verlieren als der grausame Kapitän. Ein wirtschaftlicher Komplettkollaps wäre für niemanden gut – selbst, wenn man ökologische Perspektiven außer Acht lässt. Daniel Plainview ist ein mieser Zeitgenosse, aber zumindest handelt er effektiv im eigenen Interesse. Für ihn lohnt es sich, die Bestie zu reiten: selbst, als am Ende des Films die große Depression der 1920er hereinbricht, scheint sie ihn weniger hart zu treffen als andere; vermutlich war er clever genug, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die Wirtschaft leidet, bricht aber (noch) nicht ganz zusammen. Tamsin hingegen hat alles, sie kann nur verlieren. Ein Pakt mit der Arbeiterschaft könnte sich auch für sie (als Repräsentantin ihrer Generation und Schicht) bezahlt machen. Entscheidend wäre, die gesellschaftliche, politische Ebene als Faktor zu akzeptieren – und von ihr Gebrauch zu machen. „There’s such thing as society and we have to tame it“.

Der klassische Klassenkampf mag die Arbeiter:innen davon ablenken, was gespielt wird – doch irgendwann gewinnt die Bank. Bzw. es kommt beim großen Roulette eine Null jenseits der Null, deren Existenz jede ernsthafte Spieler:in vorab wider besseres Wissen nur bestreiten kann, um ihr Gesicht zu wahren – und sogar die Bank verliert alles. Selbst auf emotionaler Ebene könnte der Pakt sich lohnen – sowohl für Tamsin als auch für Mona: nicht nur, weil erstere ihr einen Motor für ihr Bike besorgt. Tamsin bereichert sich an Mona, sie akkumuliert ihr Gefühlsleben: doch so, wie Daniels Ölgeschäft die Lebensbedingungen in Little Boston verbessert, ist auch bei Mona Fortschritt zu verzeichnen. Wie ein Schwamm saugt sie die von Tamsin – als höhnische Geste, quasi nebenbei – versprühte Bildung auf, lauscht ihren dekadenten Vorträgen über Freud und Nietzsche. Auch Tamsins Selbstbewusstsein färbt ab, ihre Fähigkeit, die Welt spielerisch zu betrachten. Keine pathetische Erneuerung der Eintracht zwischen Kopf und Körper wie in Metropolis, doch ein erträgliches Maß an Ausbeutung – mit genießbaren Folgen. Doch wie schon einmal angedeutet: Tamsin treibt es zu weit. Und selbstredend ist gerade dies für unsere Tage symptomatisch.

Bei beiden Filmen ist lobend hervorzuheben, dass, während kapitalistische Gesellschaft entsprechend Gegenstand kritischer Untersuchung wird, ausbleibt, in vereinfachende Plattitüden zu verfallen. In beiden Fällen werden sehr wohl auch die Vorteile präsentiert, die verlockenden Seiten (eben nicht nur die sich räkelnde Emily Blunt). Und: die dargestellten Kapitalist:innen sind zwar abgründige bis soziopathische, doch gleichsam höchst faszinierende, ihre Umwelt sowohl zerstörende als auch bereichernde Individuen (ähnlich den „Haifischmaden“ bei Walter Moers). Einerseits je die schonungslose Darstellung sozialer Ungleichheiten und ihrer (blutigen) Folgen, andererseits aber auch dessen, was diese – im Gegensatz etwa zur Feudelära oder der Sowjetunion – auf individueller Ebene (einigen) ermöglichen bzw. (bei ihnen) begünstigen. Kritisches Denken, freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Verfolgen selbstgesetzter Ziele. (Progressive) Liebe, (Schul)Bildung, Emanzipation von (oft zu Unrecht romantisierten) Familienhierarchien. Ohne den umgekehrt hysterisch geschwungenen Zeigefinger der „liberalen“ Proklamation, KEINE andere Ordnung als ein möglichst „freier“ Markt könne dergleichen gewährleisten. Für einige mag es überraschend kommen, doch „den“ Kapitalismus zu kritisieren ist nicht gleichbedeutend damit, am liebsten den Gulag wieder aufzubauen. Gerade dies macht den Wert subtiler (oder zumindest differenzierter) Annäherungen wie There Will Be Blood und My Summer of Love aus.

Aber Sie haben es ja gleich zu Beginn geahnt: ich will hier eigentlich bloß über Nietzsche fachsimpeln. Denn sowohl Daniel als auch Tamsin verkörpern nachgerade idealtypisch populäre Fehldeutungen von dessen Denken.

Der Witz bei selbigem ist natürlich, dass es sich – erklärtermaßen absichtlich – völlig verschieden auslegen lässt. Allemal innerhalb eines gewissen Rahmens: beispielsweise spricht Nietzsche sich sehr entschieden gegen eine antisemitische Lesart seiner Texte aus (was den späteren nationalsozialistischen Missbrauch derselben, wenigstens auf theoretischer Ebene, von vornherein disqualifiziert). Nicht nur die einzelnen Bücher wiedersprechen einander in vielen Punkten, die Texte wiedersprechen sich auch in sich selbst. Schon separat betrachtet lassen sich die meisten Aphorismen als Metaphern manigfaltig deuten – in Bezug zu anderen gesetzt, im selben Buch oder gar darüber hinaus, ergeben sich multiple Meta-Bedeutungen.

Im Wesentlichen verbindet Nietzsche dabei konstant-konkrete Kritik an konkreten Realitäten (etwa am Christentum oder am deutschtümelnden Nationalismus) mit eher implizit beschriebenen, höchst ambivalenten Alternativen. Dies trifft etwa auf sein obskurantes Konzept des „Übermenschen“ zu. Wie er (in Ecce Homo) klarstellt, ist damit kein anatomisch überlegener, etwa eugenisch erzeugter „Herrenmensch“ gemeint (wie gesagt, die Nazi-Deutung ist für die Tonne; als müsse das noch betont werden). Allerdings bleibt eher vage, was gemeint ist. Ein Mensch, der in der Lage wäre, das Leben samt seiner düsteren (bzw. dionysischen…) Seiten zu ertragen oder sogar (einschließlich der düsteren!) zu bejahen. Ohne jede Form von Religion und letzter Gewissheit. Auch dann, wenn er in einer unentrinnbaren Zeitschleife gefangen wäre. Ein spielerischer Geist, ein „aus sich rollendes Rad“, ein (erwachsenes) „Kind“.

Hö? Genau. Reichlich kryptisch. So scharf Nietzsche in Sachen Negation schreibt, so ergebnisoffen lesen sich die positiven Passagen. Im Grunde handelt es sich um Rorschachkleckse. Beispielsweise der „Übermensch“ ist weniger ein Ideal als eine Aufgabenstellung. Wenn Sie möchten, können Sie sich darunter z.B. einen metamodern-spielerischen Bezug zur eigenen Identität vorstellen, der mit dem Zweck des Flow-Erlebens durch gamedesignerische Prinzipien intensiviert werden kann. Oder etwas ganz anderes – auch darüber zu streiten wird explizit gefordert. Gewissermaßen bilden Nietzsches Schriften einen Rahmen, innerhalb dessen Innovation und Wettbewerb gefragt sind. Ginge es nicht um die Bewältigung der allumfassenden metaphysischen Sinnkrise der Menschheit sondern um Wirtschaft, könnte man wohl getrost von Ordoliberalismus sprechen.

Zum Glück geht es das nicht (tatsächlich ist Nietzsches Denken erschreckend belanglos, wenn man es auf direkt anwendbare wirtschaftliche Erkenntnisse abgesehen hat; allerdings hat eine metaphysische Sinnkrise natürlich auch ökonomische Knonsequenzen. Geldverdienen ist zunächst einmal kein intrinsischer Selbstzweck – oder benötigt, zum solchen geworden, in gewissem Umfang weiter den Vorwand, mehr Dinge kaufen oder mehr Macht ausüber zu können; wenn Geld seinen Wert verliert, machen „ehrliche Arbeit“ und haltloses Zocken im Risikokapitalsektor keinen Spaß mehr; dies gilt sowohl bei „klassicher“ Inflation – danke für den Einwand, liebe Springer-Leser:innen – als auch bei „Bedeutungsinflation“; Sie wissen schon: depressive Millenials mit Allergien, die lieber im Kleingarten selbstgehäkelte vegange Gendersternchen bemalen, als ihre fünf Master-Abschlüsse geltend zu machen und sich von der Kohle einen fetten BMW vor die Hütte zu stellen; trotz Uneinigkeit darüber, wie sie entsteht, will letztlich niemand Inflation). Darum erfreut Nietzsche sich von Konservativen und Monarchist:innen über Liberale und Kommunist:innen bis hin zu Wirtschaftslibertären und Anarchist:innen selektiver Beliebtheit. Um zum Thema zurückzuschwingen: There Will Be Blood und My Summer of Love greifen je für sich kapitalistische Lesarten auf – Lesarten jenseits des Rahmens.

Also sprechen wir über Daniel Plainview. Mit seinem Schnauzer und dem grimmen Blick sieht er schließlich schon aus wie Nietzsche, der einen Stetson gefunden hat. So schreibt auch Michael Adams – in bester wissenschaftlicher Methodik hier indirekt zitiert nach Wikipedia:

„Der Film handle vom Fortschritt und von jenem Menschentypus, der ihn vorantreibt – einem Übermenschen nach Nietzsches Vorstellung.“

Nun, wenn man Also Sprach Zarathustra oder irgendein anderes Nietzsche-Buch tatsächlich gelesen hat (und nicht auf der Stelle wahnsinnig geworden ist) dürfte klar sein, dass es Nietzsche nicht um „den Fortschritt“ geht. Wenn mit dem „Übermenschen“ ein grantiger amerikanischer Öl-Tycoon gemeint wäre, hätte man sich vermutlich eine Menge wild verschachtelter Metaphern schenken können. Adams’ Beschreibung klingt eher nach dem Ideal Raskolnikows aus Schuld und Sühne (das Nietzsche immerhin begeistert gelesen hat) – von dem dieser selbst schließlich abweicht (und schon vorher reagiert er auf das Wort „Fortschritt“ allergisch, was aber daran liegen mag, dass er sich als abgebrannter „gewesener Student“ strikt weigert, Geld für feste Nahrung auszugeben und darum etwas aufgekratz durch den Alltag schleicht). Oder, noch treffender, nach Howard Roark aus Ayn Rands The Fountainhead. Der Logik dieses Romans folgend, sind einige Menschen einfach unverhältnismäßig viel schöpferischer als andere: und wenn man sie – bzw. den Markt – nur machen lässt, entfalten sie ihr Potenzial. Allerdings kann man solche Individuen nicht gezielt erschaffen. Wenn man nicht etwa das Glück hat, so jemand zu sein, ist von vornherein zwecklos, es werden zu wollen. Als Howard Roark muss man geboren sein. Dieses Bild kommt There Will Be Blood schon näher. Man kann auch nicht einfach daherkommen und Daniel Plainview werden wollen: etwa sein vorgeblicher Bruder scheitert daran kolossal.

Jedoch: eventuell kann man mit Erziehung was drehen, wenn man früh genug anfängt – falls Sie dem oben vorgeschlagenen Deutungsansatz folgen möchten, dass Daniel es irgendwie, indirekt, nietzsche-mäßig „gut“ mit seinem Sohn meint, wenn er ihn verstößt. Dies wäre zumindest insofern stärker Nietzsche-esk, als dass dieser den „Übermenschen“ explizit als etwas künftiges, aktiv zu erstrebendes deklariert:

„Könntet ihr einen Gott schaffen? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und dies sei euer bestes Schaffen!“

Es bleibt nicht ausgeschlossen, dass Daniel Plainview ein entsprechendes Weltbild vertritt; im zeitlichen Rahmen der Erzählung wäre durchaus möglich, dass er sogar ganz konkret Nietzsche gelesen und entsprechend (miss)verstanden hat. So spottet er (besagtem „Buder“ gegenüber) wörtlich über „diese Menschen“ und betont das Wort derart genüsslich, dass naheliegt, ihn so zu verstehen, als empfände er sich nicht als einen. Allerdings sollte man dies und sein Styling vielleicht nicht überinterpretieren. Falls doch wäre fraglich, ob er damit innerhalb von Nietzsches „Rahmen“ bleibt, dass er schlichtweg gnadenlos Härte zeigt. Wenn Sie mich fragen, trifft selbst Salvador Dalí den Kern der Sache besser:

„If you think all the time: ‚I am a genius,‘ you will eventually become a genius.“

In jedem Fall ist es Nietzsche nicht darum bestellt, mit Aphorismen über den „Weg des Schaffenden“ das selbstherrliche Bild cleverer oder in materieller Hinsicht produktiver Geschäftsleute heraufzubeschwören:

Vom Theater. […] Menschen, deren Leben keine »Handlung«, sondern ein Geschäft ist, sitzen vor der Bühne und schauen fremdartigen Wesen zu, denen das Leben mehr ist als ein Geschäft? »So ist es anständig«, sagt ihr, »so ist es unterhaltend, so will es die Bildung!« – Nun denn! So fehlt mir allzuoft die Bildung: denn dieser Anblick ist mir allzuoft ekelhaft.“

Um Daniel Plainview nicht Unrecht zu tun: er will ja das Geld nicht verdienen, um Reich zu sein, sondern, weil er sich auf einer Queste zur Abstrafung der Menschheit wähnt. Gegen die Welt, gegen das Leben. Das Leben scheint ihm durchaus mehr zu sein als ein Geschäft. Aber nicht viel mehr. Auch sein lakonischer Schlussatz legt nahe, dass er sich in gewisser Hinsicht als narrative Figur empfindet:

„Ich bin fertig.“

Nun, Mr. Plainview also verkörpert die kapitalistische Nietzsche-Lesart als eine Philosophie von Fleiß, Zielstrebigkeit und – im Gegensatz zur protestantischen Ethik – expliziter Amoral. Auch dann noch, wenn man dieser eine gewisse Hintersinnigkeit zugesteht (mit dem Kopf durch die ethische Wand gedacht wie bei Ayn Rands erwähntem, noch primitiverem „Objektivismus“ führt bestenfalls nach Rapture. Immerhin.). Ob falsch verstanden oder nicht: Plainview verkörpert eher Nietzsches Spätwerk – in dem das Ideal geistreicher Barbarei mitschwingt, welche Kultur als Behelfsmittel zur seiltanzenden Sinnstiftung nicht mehr nötig hat. Wie verhält es sich derweil mit Tamsin?

Tamsin verkörpert (wie wir gleich sehen werden: eigenen Aussagen zum Trotz) eher das Frühwerk (Bücher wie Die fröhliche Wissenschaft oder Menschliches, Allzumenschliches): in dem Kultur, Müßiggang und Musik (von Richard Wagner – oder nicht von Richard Wagner? – oder doch?) noch eine große Rolle zukommt. Während einer wie Plainview garstiges Raubein genug ist, um Nietzsches Fragestellung mit konsequentem Menschenhass (weitgehend falsch) zu beantworten, versucht sie ihr Glück eher mit Arroganz, Verachtung. Über Generationen elitärer Bildung „veredelter“, immer weiter konzentrierter, schlussendlich zum Instinkt gewordener Hass ohne den Drang nach zähnefletschender Angesicht-zu-Angesicht-Konfrontation – als Kompensation der verschleppten Schuld bzw. der fortlaufend als jämmerlich empfundenen duckmäuserischen Vergebung derselben durch die unentwegt ausgebeuteten Mitmenschen. Gemessen an Nietzsches argumentativer Entwicklung eher ein diametraler Rückschritt ist sie somit zugleich kultivierter. Sie spielt Cello, schmeißt ohne Unterlass mit Zitaten um sich. Gleich bei ihrer zweiten Begegnung, als Mona Tamsins Einladung folgt und sie in ihrer Villa besucht, lamentiert sie – quasi als selbstinszenierte Exposition gegenüber Mona (und dem Publikum des Films) mit rauchiger stimme, leicht angetrunken:

„Hast du Nietzsche gelesen? […] Dieser große Philosoph, der hat nämlich geglaubt, dass … dass bestimmte, dass einige Menschen auf unserem Planeten nur dazu geboren sind, Erfolg zu haben, zu prosperieren! Wenn auch dabei der Rest der Menschheit sich opfern und versklaven lassen muss. Egal! Solange sie Erfolg haben, solange sie es schaffen, wie Shakespeare und Wagner und … und dein Bruder mit seinem Gelaber, Nietzsche würde ihm den Hals umdrehen. Dieses ganze Gewäsch über Gott. Gott ist tot. Gott ist tot, nur das hier ist real.“

Worauf dann Mona fröhlich ruft:

„Das Hier und Jetzt!“

Monas entsprechend kindliches Temperament ist wichtig, wir kommen am Ende noch einmal darauf zurück (auch, wenn Nietzsche es in so bekloppte Formeln gießt wie „Die Vermännlichung der Menschheit“ – er meint damit weniger das „Patriarchat“ oder irgendeinen Humbug im Geiste des dystopischen Regimes aus The Handmaid’s Tale als vielmehr „Das Kind im Manne“, die spielerisch-kritische Ader des Menschen, die vor allem Mädchen in patriarchalen Gesellschaften systematisch zugunsten von Fleiß und Fügsamkeit aberzogen wird – und die nötige „Härte“, diese gegen eine harsche, nach Pragmatismus schreiende Wirklichkeit durchzuboxen; dass Mona eine Frau und die Affäre mit Tamsin eine lesbische ist, lässt sich beinahe als Klarstellung dessen interpretieren). Abschließend Tamsin, entlarvend verallgemeinernd:

„Du solltest ihn lesen, ich denke, du würdest ihn mögen. Oder Freud.“

Besoffen dahergequatscht oder nicht: Tamsins allgemein spielerische Art, ihr an Soziopathie grenzendes doppeltes Spiel mit ihren Mitmenschen ist durchaus im Sinne Nietzsches. Man kann das amoralisch finden, was es natürlich auch ist – aber zumindest wird sie damit der implizit von ihr selbst (durch programmatisches Herumzitieren) gesetzten Aufgabenstellung gerecht. Das Leben als Spiel zu sehen, kann üble Blüten treiben – es kommt auf das jeweilige Maß an. So oder so jedoch ist das definitiv innerhalb von Nietzsches Rahmen. Der Ambivalenz der gottlosen Existenz mit einer ambivalenten Persona zu begegnen, ist in dessen Büchern verwurzelt. Man kann Tamsin gleichwohl vorwerfen, dass sie sich im Finale des Films als schlechte Verliererin entpuppt – bzw. nicht konsequent genug spielt.

Daniel Plainview versucht als früher Kapitalist nach Kräften, den Ideen des alten Nietzsche gerecht zu werden, Tamsin proklamiert selbiges, wird dabei als späte, überdrüssige Kapitalistin aber eher denen des jungen gerecht. Ihre jeweiligen Marotten verhindern, dass sie sich in der Mitte treffen, am „Wendepunkt“ von Also Sprach Zarathustra. Dies gelingt in beiden Filmen, wenn überhaupt, in latenten Ansätzen, Mona (siehe ganz unten). Phil und Eli jedenfalls verkörpern das von Nietzsche als hinfällig diagnostizierte Alte, das Echo vorkapitalistischer Lebensweisen, die Religion. Und sowohl Tamsin als auch Daniel missverstehen diese Diagnose als Manifest – oder gar Grund zum Feiern. Beide triumphieren durchaus über den je zum Opfer auserkorenen Priester – und agieren daraufhin schlicht amoralisch, statt sich an einer Umwertung aller Werte zu versuchen. Am Entwerfen neuer Tafeln, statt am Zerschmettern alter.

Der „Tod Gottes“ bedeutet (für Nietzsche) – in letzter Konsequenz – weniger, dass Verbote wegfallen, sondern, dass jedwede Begründung scheitert, dass keine Rechtfertigung mehr bleibt: weder im Guten, noch im Schlechten. Keine stichhaltige Argumentation mehr, um einen Glaubenskrieg auszurufen oder die Hexe zu verbrennen, aber auch nicht, um morgens aus dem Bett aufzustehen oder eine Scheibe Toast zu frühstücken: die doch z.B. auch jemand anderes brauchen könnte. Kein Grund, sich nicht der vorgeschriebenen Richtung einer noch so fragwürdigen Ideologie zu ergeben: ohne ein festes Fundament wie Gott ist ALLES fragwürdig. (das gleiche Problem liegt dem Denken der späteren „Postmoderne“ zugrunde; eine bestimmte Schnittmenge dieses Denkens, das analog zu Nietzsche nach möglichen Lösungen oder zumindest Reaktionen sucht, fällt unter den Sammelbegriff der „Metamoderne“).

In diesem Sinne ist es Nietzsche nicht darum bestellt, erzreaktionär dem Ganzen nachzuweinen (oder gar eine Rückkehr in den Schoß der Kirche zu befürworten). Das ließe sich eventuell Dostojewski unterstellen. Was auch immer Sie aus Nietzsches Texten machen: um damit, sagen wir, ein Festhalten am Zölibat oder ein Verbot von Genforschung zu untermauern, um generell unhinterfragte Tradition zu verteidigen, müsste man schon den Großteil schwärzen und den Rest per Deutung grandios verdrehen. Gewiss, allemal die katholosche Kirche besitzt in diesem Feld Expertise, ist ggf. sogar Marktführer. Das nicht. Jedoch verweigert Nietzsche sich nicht der Betroffenheit durch den wegfallenden Kern der Religion.

Übrigens muss radikale Wissenschaftlichkeit, wie sie Nietzsches Denken zugrunde liegt, sich nicht zwangsläufig mit der in Betracht gezogenen Möglichkeit des Göttlichen ausschließen. Allerdings würde es hinsichtlich der vom „Tod Gottes“ verursachten Probleme, mit denen Nietzsche sich befasst, im Wesentlichen gar nichts ändern, wenn Gott existieren würde und dies auch mit wissenschaftlichen Methoden vorläufig „beweisbar“ wäre. Wie an jeder wissenschaftlichen Theorie wäre nicht nur nicht untersagt sondern für ihre Leigitmation erforderlich, sie konstant anzuzweifeln. Ein in dieser Hinsicht hoch spannender Film ist die Alan-Moore-Adaption Constantine: Keanu Reeves gibt einen grantigen existenzialistischen Helden, der direkt mit Engeln, Dämonen, Gott und Teufel zu tun hat – welche fehlbar doch sehr mächtig bis allmächtig sind, aber (fremde) Macht allein muss eben nicht hilfreich dabei sein, dem eigenen wie generellen Dasein einen Sinn abzugewinnen. Ein „religionsloses Christentum“, wie Dietrich Bonhoeffer es entwirft (und woran z.B. Slavoj Žižek enthusiastisch anknüpft), hat mit Nietzsches Überlegungen mehr gemein als ein z.B. kapitalistisch eingefärbtes Freigeister-Gehabe durch die Selbststilisierung als große Atheist:in.

Kurzum: Nietzsche erkennt den Kollaps (im religiösen Sinne) metaphysisch begründeter Philosophien als unumkehrbar an; er verweigert sich nicht der daraus resultierenden universellen Freiheit; aber er ist kritisch genug, einzugestehen, dass Freiheit (teilweise) etwas Grauenhaftes ist. Im Kern seiner Schriften steht die Frage, ob Menschen überhaupt imstande sind, diese Freiheit in all ihren Dimensionen zu ertragen. Bzw. ob und wie der Mensch sich ändern müsste, um sie ggf. nicht nur leidend zu ertragen, sondern gar zu begrüßen, sich damit anzufreunden und nicht trotzdem sondern deswegen zu prosperieren.

In Nietzsches frühen Werken steht im Vordergrund der Ansatz, den Zerfall rationaler Gewissheit durch ein stärkeres Zulassen des Irrationalen zu kompensieren, vor allem mithilfe von Kultur und Kunst (in gewisser Hinsicht liest sich Hermann Hesses Steppenwolf als direkte Adaption dessen – ergänzt um den bei Nietzsche allzu häufig über Bord gehenden Humor). In Also Sprach Zarathustra wird parallel/alternativ in Betracht gezogen, „den“ Menschen selbst zu verändern, ihn zu einem künstlerisch(er)en, spielerisch(er)en Wesen zu erziehen – auch, wenn es viele Generationen brauchen mag und bedeutet, nicht nur kultivierter, sondern zugleich barbarischer und wilder zu werden. In seinen späten Arbeiten (z.B. Jenseits von Gut und Böse, Der Antichrist) konzentriert er sich dann aufs Pozential dieses Barbarischen und versucht auszuloten, inweit die „Krücken“ von Kultur und Kunst obsolet werden, wenn fragliche Individuen bloß stark und wild genug sind, um „aus eigener Kraft“ ihre irrationale Seite auszuleben.

Zusammenfassend: Daniel Plainview entspricht wie dargestellt weniger dem zarathustrischen „Übermenschen“ als eher dem „geistigen Aristokraten“, dem robusten Haudrauf im Sinne des Spätwerks: je nach Auslegung von There Will Be Blood nicht allzu erfolgreich. Dem Frühwerk wird er kaum gerecht, Kultur und Kunst sind nicht unbedingt seine Stärken. Demgegenüber kann Tamsin als nietzscheanischer Charakter dahingehend punkten, identifiziert sich aber eher mit dem Ideal des Spätwerks – und begeht noch expliziter als Daniel den Kardinalfehler, den „Tod Gottes“ pauschal als befreiend zu missverstehen. Sie begreift gar nicht, welches Problem sie mit ihrer Lebensweise ggf. löst oder auch nicht, worauf sie eventuell stolz sein könnte. Stattdessen folgt sie der denkbar dümmsten Nietsche-Lesart und fühlt sich darin bestätigt, anderen überlegen zu sein: im Gegensatz zum eben darum angestrengt bemühten, regelrecht kämpfenden Daniel Plainview schlichtweg aufgrund ihrer Abstammung – aufgrund von Geld. Falls Nietzsche irgendjemand dem Hals umdrehen würde, dann vielleicht ihr als erstes. Gewissermaßen werden Phil (und Mona) eher zu Handlangern (des frühen, mittleren und späten) Nietzsches, wenn sie (jeweils separat) versuchen, Mona zu erwürgen.

„Der letzte Mensch“, Nietzsches dystopische Zukunftsvision, wogegen er wettert und polemisiert, beschreibt eine Menschheit aus Individuen, die an der Aufgabe, mit ihrer Freiheit umzugehen, gescheitert sind, die es aufgegeben haben, überhaupt noch irgendetwas zu hinterfragen. Als Folge befürchtet er eine Degeneration zu jammernden Kleingeistern, ewig unzufrieden doch von Konsum und Ablenkung zu eingelullt, um sich das einzugestehen. Der beste Weg dorthin ist Selbstgerechtigkeit: Tamsins Pseudo-Nietzscheanismus verkehrt dessen Ideen ins Gegenteil. Daniel Plainview ist weniger Theoretiker, er selbst hat weniger mit dem „letzten Menschen“ gemein als menschliche Produkte kultivierten Geldadels wie Tamsin. Allerdings führt sein waches, kritisch-großkariertes Streben als Kapitalist dazu, dass einige Gerationen später dergleichen dabei herauskommt; noch weiter gedacht: er mag sich noch kräftig anstrengen, um den Prozess der fortlaufenden Optimierung bzw. Effizienzsteigerung ins Rollen zu bringen: doch dessen (vorgebliches) Ziel besteht in einer Zivilisation, die entsprechende Anstrengung minimiert.

Dies mag die Form gefährlich bequemer Beschäftigungslosigkeit annehmen – der ultimative Nietzsche-Film ist vielleicht WALL·E – oder auch die einer Übersteigerung des Effizienzstrebens, das dieses selbst in den Vordergrund stellt und Abläufe zur vermeintlichen Steigerung der Lebensverhältnisse auch in solchen Aspekten vorantreibt, die faktisch verhindern, dass man die Früchte der Anstrengung ernten kann. Eine pseudo-selbstständige Fahrrad-Paketbot:in hat eventuell gar keine Zeit (oder, noch wahrscheinlicher und trivialer, nicht genug Geld), um selbst allzu viel Zeug zu bestellen oder sich damit zu beschäftigen. Ihr fehlen auch die Ressourcen, kritisch die Grundfesten des Daseins zu hinterfragen, eher benötigt sie niedrigschwellig konsumierbare doch leider abstumpfende Konsumvergnügen (die Autoplay-Funktion bei Netflix, wenn Sie so möchten), um ihre Überanstrengung auszugleichen: was in Sinne Nietzsches ebenso zum „Letzten Menschen“ führt wie Dekadenz und Unterforderung.

Die Religion mag haltloser Skepsis und kapitalistischem Optimierungsstreben als einer ihrer Folgen im Weg gestanden haben: doch letzteres ist kein adäquater Ersatz im Sinne eines „dyonysischen“ Irrationalismus oder gar des „Übermenschen“, sondern eher eine neue Fake-Religion. Freiheit an das abstrakte Gottes-Surrogat von Geld zu knüpfen, bedeutet in einer kapitalistischen Gesellschaft wenig bis keine Freiheit für die Massen und viel bis zu viel für die Wenigen. Kapitalismus ist per se keine ernst zu nehmende Antwort auf die von Nietzsche aufgetane Aufgabenstellung, schlimmer, je radikaler bzw. libertärer er gedacht wird, desto gravierender wirkt er dem Finden valider Lösungen entgegen. „Tamsin, Plainview, setzen, Sechs.“

Gut, schön, fein. Ein Haufen mehr oder weniger – aber immer ein Bisschen – falscher Nietzsche-Deutungen aus der Kapitalist:innen-Ecke. Um nun dem mindestens genauso falschen Umkehrschluss vorzubeugen: Nietzsche war auch kein „antikapitalistischer“ Denker. Was beispielsweise Foucault aus Nietzsche macht mag innerhalb des Rahmens liegen – füllt diesen aber nicht aus, lässt sich nicht einfach gleichsetzen mit Nietzsches in sich konträrem Blitzgewitter im „guten“ Sinne „bösartiger“ Ideen. Von diesem inspiriert argumentiert Foucault, man müsse das Leben zum Kunstwerk machen, um sich der normativen Prägung durch die kapitalistische Gesellschaft zu wiedersetzen. Statt nun fürs Ende der Geschichte zu streiken, sollte man in die Fußstapfen der antiken Lebenskunst treten und die urwüchsigen Gelüste des eigenen Körpers ausleben – als Gegenmittel zum von der Werbung induzierten Konsumzwang, der einen zur stumpfsinnigen ausbeuterischen Mehrheitsdrone macht. Rebellion im Kleinen. Kunst als Ausweg aus der Marktmaschinerie. Nietzsches sprachmächtiges Geraune läuft derweil eher darauf hinaus, dass das Leben sowieso Kunst ist, einerlei ob kapitalistisch geprägt oder nicht. Auch ein Dasein als Daniel Palinview ist ein Kunstwerk, auch eins als Tamsin, als Eli – eins als Mona. Die relevante Frage wäre vielmehr, ob es ein gutes Kunstwerk ist. So Nietzsche:

„Und ihr sagt mir, Freunde, daß nicht zu streiten sei über Geschmack und Schmecken? Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken!“

Ein gutes Kunstwerk: wobei „gut“ einer der Nietz’schen Rorschachkleckse wäre; ein Platzhalter, den Sie ersetzen können, wodurch sie wollen – z.B. durch intensiv, elegant, dramatisch, ja-sagend, fatalistisch, was auch immer. Wenn überhaupt wäre dies zu entscheiden, bevor man die nachrangige Frage stellt, ob sich das gewählte Adjektiv in einer kapitalistischen Lebenswelt ausleben lässt – falls nicht hätte man, von Nietzsche ausgehend, erst aposteriori einen Grund, Antikapitalist:in zu sein. Pauschal für Lebenskunst zu plädieren, wenn man umgekehrt von der Frage ausgeht, wie man sich dem Kapitalismus entziehen kann, ist allemal nicht apriori in Nietzsches Texten angelegt. Faktisch mag dies auch nicht gleich der Weg zur Knechtschaft sein, wohl aber der Weg in den Kleingarten (falls Sie Besitzer:in eines Kleingartens sind, nehmen Sie’s mit Humor).

Nietzsche „an sich“ ist weder auf einen Nenner zu bringen noch ein verkannter Sozialist. Selbstredend können Sie aber auf Basis dessen, was Sie persönlich aus seinen Texten machen, antikapitalistisch agieren – oder aus anitkapitalistischen Motiven prüfen, was sich in diesem Sinne daraus machen lässt. Wahren Sie eine gesunde Distanz, instrumentalisieren Sie nicht. Nehmen Sie Nietzsche als Abführmittel gegen akuten Nihilismus; wenn Ihnen das Leben an sich mundet, dessen spezifische Ausgestaltung unter kapitalistischen Vorzeichen Ihnen aber auf den Magen schlägt: nur zu, rebellieren Sie, wo Sie können. Umso besser.

Was jedoch vor allem My Summer of Love auf die simple Rahmenhandlung der (einseitig nur aus Langeweile gespielten) Rich-Girl-Meets-Poor-Girl-Story bringt: Nietzsche und der ganze Rest der „Hochkultur“ verfeinern das Leben, machen es lebenswert(er) – doch die Frage nach der ökonomischen Gesellschaftsordnung ist, abgesehen von etwaigen entstehenden Hindernissen beim Lösen des Problems des „Todes Gottes“, davon weitgehend unabhängig, ist trivialer und zugleich viel existenzieller.

Wenn Sie Ihre Miete nicht zahlen können, kann Ihnen der „Übermensch“ vermutlich mal den Buckel runterrutschen. Auch wenn die kapitalistische Kulturmaschinerie Ihrer persönlichen Vorstellung davon, das Leben zu einem (besseren) Kunstwerk zu machen, kein Stück im Weg steht: der Klimawandel trifft Sie trotzdem. Wenn Sie nackt in Ihrem Kleingarten voll kultiviertem Unkraut herumhüpfen und lauthals Zarathustra zitieren, bekommen Sie dennoch die Folgen einer totalen Wirtschaftskrise zu spüren. Nietzsche vertritt die Ansicht, die Menschheit solle nun ihren „großen Mittag“ erleben und sich als Ersatz für die Religion neue kollektive Ziele setzen; bei allem Streit, wie diese aussehen könnten, selbst dann, wenn Kapitalismus doch geeignet ist, muss die Menschheit dazu aber erstmal als solche überleben. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Umwertung aller Werte.

Um kurz auf die angerissene Metapher des Films Snowpiercer abzuschweifen: Mit jeglicher „Evolution“ hat sich’s, wenn man ausstirbt. In Snowpiercer zeigt die unter reichlich bizarren Lebensbedingungen im Zug eingepferchte Menschheit tatsächlich Ansätze, sich weiterzuentwickeln. Das schweigsame Mädchen Yona verfügt über nicht weiter begründete scheinbar hellseherische Fähigkeiten (sie kann erspüren, was sich im jeweils nächsten Abteil des Zugs befindet). Damit erinnert sie ein Wenig an die Tochter des verstrahlten Fremdenführers in Tarkovskijs Stalker – vielleicht das einzig optimistische Element des Films. Doch ebenso wie alle anderen ist sie konstant bedroht vom Entgleisen des Kapitalismus-Zuges.

Passend illustriert wird dieser simple Umstand vom Schlussbild von My Summer of Love. Klitschnass und wütend tritt die von Tamsin hintergangene Mona aus dem Wald (in dem sie Tamsin – fast – ertränkt hätte) und trottet eine schäbige Landstraße entlang. Womöglich zurück zum Dorf, womöglich einer ungewissen Zukunft entgegen. Der kurze Traum ist ausgeträumt, brutal-banale Klassenunterschiede haben dem steilen Höhenflug durch nietzscheanische Gefilde jäh ein Ende gesetzt. Ganz ähnlich wie im Fall von Yona, die nach Entgleisen des Snowpiercers (fast) allein in einer tief verschneiten Landschaft steht – und eventuell von dem im dortigen Schlussbild auftauchenden Eisbären gefressen wird.

Dabei bietet Mona als fiktionaler Charakter durchaus ein utopisches Moment. Für Sie ist Nietzsche als Erzieher, ist Bildung generell wahrlich gehaltvoll, erweitert ihr Potenzial zu handeln und zu empfinden, ist keine Halbbildung im Sinne Adornos (nicht um der Sache willen erworbenes Wissen ohne aufrichtige Identifikation mit den Sachverhalten, über die man etwas lernt; z.B. um damit Prüfungen zu bestehen oder als blankes Statussymbol). Mona krempelt tatsächlich ihr Leben um, für sie hat die Philosophie praktischen Gehalt. Sie findet in ihrer konkreten Lebenswirklichkeit sinnstiftende Elemente, ohne letztgültige Wahrheiten als Fundament zu benötigen. Sie ist schlussendlich weniger entfremdet als zu Anfang: im Gegensatz zu Tamsin, die bar jeder Eleganz keifend im Fluss zurückbleibt und Daniel Plainview, der in seiner fensterlosen Bowlingbahn hockt.

Gewissermaßen wird in ihr der Versuch gemacht, etwas lebensbejahnedes Neues aufzubauen, nachdem alles Stehende und Ständische verdampft, alles Heilige entweiht ist. Sie ist desillusioniert, weniger arm ginge es ihr besser – doch sie ist nicht so perspektivlos wie zu Anfang. Sie ist: ein metamoderner Charakter.

Wenn sich aus beiden Filmen oder der Gegenüberstellung so etwas wie eine „Lehre“ destillieren lässt: Arbeiter:innen sollten Nietzsche lesen, sonst haut man sie mit dem Mummenschanz übers Ohr.

Ich bin fertig.


Robert Boehm, Leipzig, 18.03.2022. Letzte Revision am 18.03.2022.

Bildquellen: Pixabay.com


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