
Im osteuropäischen Kino verkörpern Birken Katastrophen und Melancholie. Warum? Birken sind Pionierpflanzen. Mit Brennnessel und Fingerhut das erste, was wächst, lange vor Fichten oder gar Eichen. Wann immer im slawischen Kulturraum Siedlungen aufgegeben wurden – allzu oft infolge westlicher Invasionen, unter Napoleon Bonaparte, unter Adolf Hitler – waren es zunächst Birken, die das von Menschen verwaiste Territorium besiedelten. Schlüsselszene in Andrej Tarkowskijs Antikriegsfilm Ivans Kindheit ist der berühmte „Tanz der Birken“, Ausdruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Vermutlich sprießen bald neue Birken – diesmal bläst der Sturm aus der Gegenrichtung. Doch Wind ist nicht identisch mit der Luft, welche er bewegt. Aggregatzustände können sich ändern.
Es mag scheinheilig sein, dass Putins Krieg in der Ukraine einen weltweiten Aufschrei zur Folge hat und der im Jemen oder in Äthiopien nicht, nicht annähernd im selben Maße. Ja, auch Russland hat schon zuvor aus machtpolitischen Erwägungen Krieg geführt. Ja, auch westliche Regierungen haben unter fiktiven Vorwänden Krieg begonnen. Ob es überhaupt so etwas wie einen „gerechten Krieg“ gibt, ist äußerst fragwürdig. Fraglos hingegen lässt sich den NATO-Staaten eine gewisse Mitschuld an den Umständen attestieren, unter denen Putin seinen aktuellen, definitiv nicht gerechten Krieg begonnen hat. Beidseitig nicht verbindlich fixierte (aber auch nicht bloß retrospektiv erfundene Übereinkünfte) und eine jahrzehntelange, durchaus expansive Ausdehnung der westlichen Einflusssphäre nach Osten haben die Konstruktion der vorgeblich historisch fundierten Ideologie, mit welcher Putin seine Invasion zu legitimieren sucht, erleichtert wenn nicht gar ermöglicht. Auch im unmittelbaren Vorfeld hätte man vermutlich stärker auf Russland eingehen, diplomatisch mehr Einsatz zeigen können – so irrelevant, so vergeblich von vornherein sich dies rückblickend darstellen mag. Nun zu sagen, dass sich dergleichen ohnehin nicht gelohnt hätte, entspräche einem invertierten Präventionsparadox.
Allein die NATO verantwortlich zu machen wäre jedoch, wie Slavoj Žižek treffend feststellt, so, als würde man den faktisch ungerechten Versailler Vertrag für alle Taten Hitlers verantwortlich machen. Oder, so könnte man hinzufügen, als würde man die Annexion Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland als gerechtfertigte Sicherung des deutschen Machtbereichs bzw. der schützenden Pufferzone nach Osten ansehen.
Der latente Konflikt, welchen der Einmarsch in der Ukraine auf eine neue Stufe hebt, hat weit zurückreichende, komplexe Ursachen. Die Gründung der Stadt Kiew, irgendwann im späten vorletzten Jahrtausend, markiert einen Schlüsselpunkt in der kulturellen Vermengung slawischer Völker, von Skandinavien südwärts ziehender Waräger-Stämme und später christlicher bzw. christlich-orthodoxer Theologie, welche sowohl für die Entstehung des heutigen ukrainischen wie auch des heutigen russischen Volkes von entscheidender Bedeutung ist. Geschichte ist nur als fortlaufender Prozess zu denken, es gibt oder gab nie einen konkreten „Urzustand“, den es zu restaurieren gilt.

Die Wurzeln der Gegenwart reichen zurück bis zur Entwicklung der ersten Hominiden in Südostafrika vor 2,4 Millionen Jahren, zur evolutionären Spaltung von Wirbeltieren und Lanzettfischchen vor 550 Millionen Jahren. Im Grunde noch weiter, in Regionen, die eigentlich bloß noch für Astrophysiker:innen von Interesse sind.
Nicht nur bezogen auf „Deutschland“ stößt die Suche nach einem ursprünglichen Vorgänger auf das Problem zahlloser unterschiedlicher Iterationen; aus welchem Paradies wähnt man sich vertrieben? Meint man das Dritte Reich in den Grenzen vom November 1942? Das Reich Kaiser Wilhelm des II.? Den Deutschen Bund? Das Heilige Römische Reich? Cäsars nördliche Kolonie? „Die“ Germanen? Die Megalithkultur(en) auf heute „deutschem“ Territorium? Die in der Altsteinzeit aus dem nahen Osten emigrierenden Homo Sapiens Sapiens oder die indes bereits in Europa heimischen Neandertaler:innen?
Umgekehrt ist die Wirklichkeit, die wir im heutigen Alltag rezipieren, natürlich nicht das Ergebnis eines klaren Bruchs in der Weltgeschichte, wie man geneigt ist, ihn implizit mit Anbruch „der“ Moderne zu assoziieren. Besonders Science-Fiction-Filme tendieren dazu, bis ins letzte Detail futuristische Städte in sonst unberührter Natur zu zeigen. Wenn es um fremde Planeten geht, mag dieser Darstellungsweise eine gewisse Plausibilität innewohnen. Allemal, sobald es um die träge alte Erde geht, fungieren solche Bilder jedoch als trojanische Pferde, vollgestopft mit der impliziten Ideologie eines radikalen Neubeginns, eines (vom Vorherigen) Nichtbetroffenseins – auch retrospektiv bezogen auf die Ursprünge des „Jetzt“. Ein hübsches Gegenbeispiel markiert der Film Zardoz: in einer sehr fernen Zukunft leben (einige) Menschen nach wie vor in irischen Landhäusern aus dem 17. Jahrhundert, die lediglich futuristische Anbauten erhalten haben.
Wenn die Experimental-Band Einstürzende Neubauten singt „Die neue Goldene Horde! Diesmal ohne Dschingis Khan!“, so ist dies ein Phänomen, dessen Ursachen sich in – vielleicht nicht gerader aber ungebrochener – Linie zum mongolischen Khanat der sogenannten „Goldenen Horde“ (und darüber hinaus) zurückverfolgen lassen, das sich zeitweilig auf ukrainischem Gebiet erstreckte. Selbiges gilt dafür, dass Sie jetzt gerade diesen Text lesen.

Wenn norwegische Neo-Hippies Rasputin von Bonny M covern, führt dies kausal zum berüchtigten Guru des letzten Zaren und somit der russischen Tradition stark vom Volk entfremdeter Machthaber – auf welche später noch eingegangen wird – ohne die Rasputins groteske Rolle in der Geschichte kaum vorstellbar gewesen wäre. Hätte dieser seinen Einfluss auf die Romanows strategisch besser zu nutzen gewusst, wäre Russland womöglich nicht oder erst später in den Ersten Weltkrieg eingetreten – woraufhin die Weltgeschichte wahrscheinlich dermaßen different verlaufen wäre, dass heute wohl kaum Wladimir Putin russischer Präsident wäre. Natürlich sind dergestalte Was-Wäre-Wenn-Spekulationen über ihren Nutzen bei der Dekonstruktion deterministischer Geschichtsdeutungen hinaus müßig.
Das Geschehen der Gegenwart knüpft ans Vorangegangene an, spinnt dieses fort – ist jedoch gleichzeitig Produkt der ganz konkreten Einzelentscheidungen, die Menschen im früheren oder heutigen „Jetzt“ treffen. Die Invasion der Ukraine ist Symptom eines komplexen, von unterschiedlichen Seiten angefachten Konflikts zwischen Machtblöcken: doch sie hebt diesen infolge einer sehr konkreten Entscheidung Wladimir Wladimirowitsch Putins auf eine neue Stufe. Dies ist rückblickend mehr als bedauerlich, mehr als entsetzlich – nun aber ist es Tatsache. Und dieser muss man sich stellen.
Sanktionen gegen Russland werden kaum zu einem augenblicklichen Putsch der russischen Bevölkerung gegen Putin führen, welcher den Krieg diese oder nächste oder übernächste Woche beendet; Opfer solcher Sanktionen ist zunächst die russische Bevölkerung, Menschen, deren große Mehrheit in keiner Form für die aktuellen Ereignisse verantwortlich zu machen ist. Der Ukraine Waffen zu liefern, mag nicht zu einem anderen Ausgang der Kampfhandlungen führen, als er ohnehin letztlich irgendwann eintreten mag (ggf. aber zu einem anderen Ausgang des Krieges).
Pauschal 100 Milliarden Euro für Rüstung auszugeben statt (oder wenigstens ebenso wie) für Klimaschutz lässt sich völlig zurecht kritisieren. Aufrüstung als spontane Schreckreaktion ist in jedem Fall skeptisch zu bewerten. Allerdings: eben so scheinheilig ist, so zu tun, als wäre der Rest der („westlichen“) Welt eigentlich unbeteiligt – als wären Sanktionen und Waffenlieferungen machtpolitischer Opportunismus anlässlich eines Krieges, den die Ukraine und Putins Russland eigentlich unter sich ausmachen sollten. Aus vorgeblich „linken“ Beweggründen internationale Solidarität zu verweigern ist eigentlich schon nicht mehr bigott zu nennen.

Die Gefahr historischer Vergleiche im Kopf behaltend empfiehlt sich hierbei, einen Blick auf den sowjetisch-finnischen Krieg in den Jahren 1939 und 1940 zu werfen. Parallelen bestehen bereits insofern, als dass unerwartet erbitterter Widerstand des finnischen Militärs und der finnischen Bevölkerung eine Okkupation des gesamten Landes durch die zahlen- und ressourcenmäßig weit überlegene rote Armee verhindert hat. Nur dieser Widerstand machte letztlich möglich, auf diplomatischem Wege Frieden zu schließen. Womöglich ist nur darum die weitere Geschichte der Sowjetunion verlaufen, wie sie verlaufen ist, war nur darum die deutsche Weidervereinigung denkbar, ist der Kalte Krieg nicht eskaliert.
Statt der Angliederung des gesamten Landes an die Sowjetunion wurden „lediglich“ einige Territorien abgetreten, darunter etwa Karelien. Infolge dessen war Finnland in militärischer Hinsicht neutral, ist bis heute nicht NATO-Mitglied geworden (wobei die Option im Zuge der aktuellen Ereignisse erstmals eine knappe Mehrheit bei Umfragen erhält). Zugleich war das Land frei, sich unabhängig und selbstbestimmt zu entwickeln: heute ist Finnland Mitglied der EU und eins der glücklichsten Länder der Erde.
Analog wäre ein ähnlicher Kompromiss der wohl beste denkbare Ausgang des gegenwärtigen Krieges, besonders für die ukrainische Bevölkerung (wie auch beispielsweise Yanis Varoufakis fordert). Es darf nicht darum gehen, die Ukraine entweder zum russischen Sattelitenstaat zu machen oder sie aus Prinzip der NATO anzugliedern. Tatsächlich wünschenswert ist, das Grauen eines langen Krieges und/oder einer gewaltsamen Besetzung zu verhindern, den Angriff auf die Demokratie als solche abzuwehren und das konkrete Streben der Ukrainer:innen nach freier Selbstbestimmung zum Erfolg zu führen. Ggf. in Gestalt eines formellen oder informellen Beitritts zu Europäischen Union.
Bei aller Unterstützung der kämpferischen Selbstverteidigung der Ukraine müssen zugleich sämtliche Kräfte gebündelt werden, um eine politische, diplomatische Lösung zu erwirken. Putin darf nicht erreichen, wonach er strebt, aber man sollte sich vor Augen halten, dass eine komplette Niederlage (die sich nicht wenigstens hypothetisch als Sieg deklarieren lässt), für ihn keine Option zu sein scheint. Diese würde ihn seiner Regentschaft entheben – und allem Anschein nach ist er bereit, ernsthaft den Einsatz von Atomwaffen in Betracht zu ziehen, um dies zu verhindern. Selbst wenn dies (so Selenskyj) nur ein Bluff sein sollte, ist bereits dieser brandgefährlich.

Deeskalation und Behutsamkeit sind wichtiger denn je. Ein atomarer Konflikt darf niemals eine Option sein. Auch ein „herkömmlicher“ offener Krieg zwischen Russland und NATO würde, neben der unentwegten Gefahr, eben doch in einer nuklearen Eskalation zu münden, unerdenkliches Grauen bedeuten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit den eigenen Tod bedeuten, meinen, Ihren, den von Personen aus unserem Umfeld. Natürlich sind Menschen außerhalb der Ukraine nicht mehr wert als die Ukrainer:innen und russischen Soldat:innen, die aktuell leiden und sterben – das Elend auszudehnen, um mitzuleiden, kann gleichwohl kein valider Rückschluss sein.
Dennoch wäre Nichtstun der falsche Weg. Sanktionen, Waffenlieferungen, Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine, Demonstrationen für Frieden, Spenden, klare Stellungnahmen, Klagen gegen Gerhard Schröder wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und auch radikale künstlerische Aktionen sind gerechtfertigt. Putins Einmarsch in der Ukraine seinerseits nicht als indirekten Angriff auf das Gefüge westlicher Demokratien (und vielleicht nicht deren „Werte“ im Sinne schief singender Fußballmannschaften und lächerlich pathetischer Online-Bekenntnisse, für den Sozialstaat direkt mal sterben zu wollen: wohl aber deren Gesellschaftsmodell) zu deuten, ist Augenwischerei.

In einer Online-Diskussion mit dem rechtsliberalen YouTube-Psychologen Jordan Peterson (der in dem Clip einmal mehr durch eine Reihe bizarrer Bildungslücken auffällt – und mit dem die im Folgenden dargestellte Thematik zu besprechen an handfeste Ironie grenzt) argumentiert der Militärhistoriker (und ehemalige strategische Berater von George W. Bush und Barack Obama) Frederick Kagan, Teil von Putins hybrider Kriegsführung sei das seit Jahren in Russland wiederhergestellte und, hauptsächlich über soziale Medien, westlichen Gesellschaften „injizierte“ fragile Wahrheitsverständnis, das in der Sowjetunion zum Alltag gehörte. Dieses beschreibt auch Wolfgang Leonhard 1955 in seinem deutlich aufschlussreicheren Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder. In der UdSSR waren demnach sämtliche Medien derart mit Propaganda durchsetzt, dass sich unter der „einfachen Bevölkerung“ schließlich ein weitgehend gleichgültiges Verhältnis gegenüber dem Konzept von Wahrheit als solcher durchsetzte.
Natürlich wusste man, dass der öffentlichen Berichterstattung nicht zu trauen war, doch mangels brauchbarer Alternativen konnte man bloß so leben, als ob eben doch. Verlässliche Wahrheit war ein „Luxusgut“: auch z.b. Einblick in trockenste Verwaltungsangelegenheiten, die im Westen kaum jemanden interessiert hätten, außer vielleicht einer Bande mausgrauer Jurist:innen mit Hornbrillen, waren unter sowjetischen Funktionär:innen oft der begehrte Lohn dafür, Karriere zu machen und immer kleineren Kreisen von Eingeweihten beizutreten.
Indem Putins Russland durch strategisches „Trolling“ etc. die Herausbildung zunehmend radikaler Meinungsbilder und den Glauben an Verschwörungstheorien stärkt, säht es stückweise exakt diese Mentalität. So zeichnen sich Bewegungen wie „Querdenken“ (als partielle Produkte entsprechend hybrider Kriegsführung bizarrerweise faktisch Teil einer echten Verschwörung) sowohl durch eine allgemeine Erosion von Wahrheit aus als auch durch das – ins noch Absurdere verzerrte – Lustempfinden dabei, (angeblich) geheime (angeblich wahre) Wahrheiten zu kennen. „Vielleicht haben ja Reptiloiden aus der Hohlerde das Attentat vom 11. September geplant? Ich stelle ja nur Fragen, wer weiß?“ – „Und vielleicht wollten ja wirklich 95% der Krim-Bewohner:innen lieber Russ:innen als Ukrainer:innen sein? Wer weiß?“

Wie die Abstimmung der Vereinten Nationen am 02.03.2022 zum Ausdruck bringt, hat Putins Russland bei seinem Vorgehen durchaus Unterstützer, auch indirekte Unterstützer im Sinne der Weigerung, dieses zu verurteilen: darunter Südafrika, Indien, Belarus, China – Nationen mit insgesamt rund drei Milliarden Einwohner:innen (bei aktuell fast acht Milliarden Homo Sapiens Sapiens ingesamt also keineswegs eine zu vernachlässigende Minderheit). Länder, welche auch bei den Gipfeltreffen von Xi Jinpings „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ zusammenkommen – einem von China ausgehenden Gegenenwurf zu den westlichen G7. Am 07.03.2022 äußert Chinas Außenminister, die chinesisch-russische Freundschaft sei „eisenbeschlagen“. Eventuell beobachtet Xi Putins Krieg und die Reaktionen darauf: als impliziten Testlauf für seine offiziell in Aussicht gestellte Invasion Taiwans.
Hier soll nicht versucht werden, Putin als reine Marionette Xis zu stilisieren; eher zeichnen sich Grundzüge einer Weltordnung ab, in der Russland für China etwa dem entspricht, was Europa seit dem Zweiten Weltkrieg für die USA ist. Diese Unterstützung ist symptomatisch für die Entstehung neuer nicht- oder gar antidemokratischer und -liberaler Modelle, welche als solche zunehmend einen Block bilden, sich proaktiv als Konkurrenz positionieren.
Schon die faktische Abschaffung der Souveränität der Sonderverwaltungszone Hongkongs durch Xi Jinpings Kommunistische Partei Chinas und die Internierung von Menschen in Konzentrationslagern in Xinjiang, das Sozialkredit-System, kennzeichnen die Errichtung eines entsprechenden Zukunftsentwurfs, ebenso wie der Umgang Putins mit innerrussischer Opposition. Ja, auch im Westen sind Schritte in dieser Richtung zu verzeichnen, allerdings nicht annähern in gleichsetzbarer Dimension – und vor allem nicht als unverhohlen programmatische Geste. Die Invasion der Ukraine bedeutet einen neuen Schritt: offene Konfrontation.
Die Gesellschaft, in der wir leben, wird indirekt mit angegriffen – womöglich zum ersten Mal seit Jahrzehnten ernsthaft. Putin ist kein religiöser Fanatiker mit Sprengstoffgürtel, dessen langfristiges Ziel darin besteht, einen menschenverachtenden Wüsenstaat auf Basis arg selektiver Lesarten jahrhundertealter religiöser Texte zu errichten. Vielmehr markiert die Invasion der Ukraine den Beginn von etwas, woraus ein neuer Kalter Krieg zwischen Supermächten erwachsen könnte; von solcher Tragweite, dass man ihn weder mit direkter Gewalt austragen noch einfach aussitzen kann.

Wie dieser Tage gern (zurecht) hervorgehoben wird, ist Putins Strategie nach hinten losgegangen, falls er darauf aus war, die westliche Staatengemeinde und ihre Gesellschaften weiter zu spalten. Ganz gegenteilig ist ein Zusammenrücken zu beobachten, eine regelrechte Vitalisierung, in (Verteidigungs)Politik wie (Ziviel)Gesellschaft. Erbittert gefochtene Kulturkämpfe scheinen, wenigstens für den Moment, plötzlich weniger bedeutsam. Ekelhafte Akteure wie Viktor Orbán und Jair Bolsonaro (mit seinem selbstgewählten Kampfnamen „Häuptling Kettensäge“) tragen plötzlich Sanktionen gegen denselben Putin mit, der, wenigstens noch vor Kurzem, im Pantheon ihrer Anhängerschaft hoch im Kurs stand (bzw. immer noch steht?), weil er häusliche Gewalt entkriminalisiert hat und Gesetzte gegen „homosexuelle Propaganda“ erlässt. Ja, doch, der Westen rückt näher zusammen. Allerdings mag dies unter Umständen eine Gegenreaktion zur Folge haben, ein Zusammenrücken anti-westlicher Kräfte bzw. eine Konkretisierung desselben.
Zugleich handelt es sich um einen territorialen Eroberungskrieg eines international anerkannten Staates gegen einen anderen international anerkannten Staat im Stil Napoleons, den es in dieser Form seit 1945 nicht mehr gegeben hat (bzw., je nach Sichtweise auf die chinesische Annexion Tibets, seit 1950). Dies mit Bedauern hinzunehmen würde einen globalen Präzedenzfall schaffen – auch für Nationen von geringerer geostrategischer Bedeutung und ohne Atomwaffen, in deren Fall Angriffe durch oder auf Nachbarländer wohl kaum entsprechende Schockwellen schlagen und ggf. deutlich eher hingenommen würden: solche Angriffe könnten Teil einer neuen finsteren Normalität werden. Der 24. Februar 2022 markiert einen ebenso neuen wie drastischen zivilisatorischen Rückschritt in Richtung Mittelalter.
Auch auf Ebene der Supermächte bzw. Blöcke wäre ein erfolgreicher Präzedenzfall katastrophal. Wenn beide Seiten Atomwaffen besitzen, ist eine direkte, über Sanktionen etc. hinausgehende, militärische Reaktion im Grunde ausgeschlossen. Somit ist potenziell derjenige im Vorteil, der minimal bereiter ist, das Risiko allumfassender nuklearer Vernichtung einzugehen. Der dreist genug ist, einen ersten Schritt zu gehen und z.B. ein einzelnes Nachbarland anzugreifen, wohl wissend, dass es zunächst bei diesem bleiben wird – bis zum nächsten ersten Schritt.

Was aktuell in der Ukraine geschieht, ist – so sehr dieser Satz auch nach Groschenroman klingt – von entscheidender Relevanz für die Zukunft der Menschheit. Dass die Ukraine nicht längst erobert ist, wird fast jede:n (allemal mich, der ich gewiss kein Militärexperte bin) überrascht haben. Umso entscheidender ist, dass sie sich bis jetzt hält. Ob sie im unmittelbaren Kriegsgeschehen siegen wird (was vermutlich nicht wahrscheinlich ist), wie schwer sie es Putin macht und wie lange sie standhält, wie erbittert sich die Bevölkerung im Fall einer Besatzung zur Wehr setzt. Der Krieg an sich ist verkehrt, sollte bestenfalls sofort enden. Dies muss an erster Stelle stehen: an zweiter jedoch muss man durchaus Partei ergreifen, wenn Entbindungskrankenhäuser Ziel von Luftangriffen werden.
„Ein Mensch mit klarem Verstand wäre niemals zu einer solchen Tat in der Lage. Ein Haus in die Luft zu sprengen, in dem Menschen wohnen. Vollkommen unschuldige Menschen, mitten in der Nacht. Mitten in der Nacht. Das geht mir nicht in den Kopf. Das ist unfassbar. Unfassbar. Das ist eine unmenschliche Grausamkeit. Uns muss einfach klar sein, dass wir uns zur Wehr setzen müssen. Dagegen kann man sich nur mit Gewalt zur Wehr setzen.“
Wladimir Wladimirowitsch Putin, 1999 während seines ersten Wahlkampfs, über einen Terroranschlag in Moskau
Dabei ist elementar, sich ein gewisses Maß kritischer Distanz zu bewahren. Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Identifikation mit dem, wofür sie kämpft, sollte nicht dazu verleiten, genüsslich „mitzufiebern“, in sozialen Medien militärische Karten zu liken und Kriegsberichterstattung statt Netflix zu „bingewatchen“. Euphorische Berichterstattung über wackere Ukrainer:innen, die aus Kinderschaukeln Katapulte (!) bauen, tendiert regelrecht Richtung „Augusterlebnis“.
Ebenso sollte man vermeiden, den aktuellen Krieg zu romantisieren – wie es oft retrospektiv mit Widerstandsbewegungen wie den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, der französischen Résistance im Zweiten Weltkrieg oder besonders Che Guevara als Vertreter der Kubanischen Revolution betrieben wird. Im Widerstand zu kämpfen ist kein spannendes identitätsstiftendes Abenteuer sondern ein Verzweiflungsakt. Man ist nicht Sophie Scholl, weil einem die Solidarität fehlt, im Supermarkt eine Stoffmaske zu tragen, man sollte sich per se nicht wünschen, an Sophie Scholls Stelle zu sein – und man ist kein:e Held:in der Demokratie, weil man bei Instagram liked, dass Anonymous Putin den Cyberkrieg erklärt. Auch nicht, wenn man zu einer Demo geht – dies ist wichtig, nötig: aber kein Anlass, über den man sich freuen sollte.
Dies berücksichtigend kann es – aus metamoderner Sicht – durchaus sinnvoll sein, sich von Taten ukrainischer Widerständler:innen wie den todesverachtenden Soldaten von Snake Island oder Leuten, die mit bloßen Händen versuchen, Panzer zu stoppen „inspirieren zu lassen“. Im Sinne von Nietzsches Amor Fati sollte man akzeptieren, dass sich ereignet hat, was sich bisher ereignet hat und auf interpretativer Ebene das Bestmögliche daraus zu machen versuchen: z.B. neue Narrative – mit dem Ziel, dass sich nicht mehr dergleichen ereignet und dass das nicht ungeschehen zu machende auch positive Konsequenzen hat (wie wachsende europäische Solidarität und eine stärkere Identifikation mit Demokratie als Lebens- und Gesellschaftsentwurf).
Denn neue Narrative sind unerlässlich. Putin sucht Legitimation im alten Narrativ, dass die Vergangenheit (bzw. eine fiktive Form derselben) bestimmt sei, wiederhergestellt zu werden. Analog argumentiert Xi Jinping, dass Taiwan und Hongkong ehedem Teil des chinesischen Kaiserreichs waren und es folglich wieder sein müssten. Ebenso gefährlich wie faktenverdrehender Revisionismus ist der Versuch, Gesellschaften auf Basis gänzlich neuer Narrative unter Missachtung alles Bestehenden gestalten zu wollen; dafür bietet die Historie deutlich weniger Beispiele – etwa Pol Pots Versuch, in Kambodscha eine „steinzeitkommunistische“ Utopie verwirklichen zu wollen. Die Vergangenheit determiniert nicht die Zukunft – aber bei deren Gestaltung muss sie berücksichtigt werden.

Laut dem russischen postmodernen Schriftsteller Wladimir Sorokin sind Putin und sein Krieg ein Symptom von Machtstrukturen und zugehörigen Narrativen, welche in Russland seit Zar Ivan dem Schrecklichen – seit dem Mittelalter! – unverändert Bestand haben. Die weder unter den Bolschewiken noch nach Zusammenbruch der UdSSR in ihren Grundlagen erschüttert wurden. Wesenskern dieser Ordnung ist das Narrativ, dass das russische Volk seine Herrscher nicht verstehen sondern bloß fürchten kann. Bzw. dass intentionelle Irrationalität und Grausamkeit der Machthaber letztlich nur blinden Gehorsam zulassen. Dass sie somit die beste Strategie darstellen, um Russland zu beherrschen – ein Glaube, der jede russische Regent:in auf lange Sicht zwangsläufig zur Autokrat:in macht. Sorokin bedient sich der Metapher einer Machtpyramide – welche es abzutragen gilt.
„Alles, was wir seinerzeit als Überspitzung bezeichneten, hilft in diesem Sinne natürlich nicht weiter, es fügt uns im Gegenteil einen gewissen Schaden zu. Deshalb können uns all die Büsten, Denkmäler und anderen Elemente des Führerkults, die aus der Vergangenheit in unsere Zeit übernommen wurden, nicht froh stimmen. Aber es ist sehr schwer, dagegen anzukämpfen.“
Wladimir Wladimirowitsch Putin, im Jahr 2000
Das erdrückende Gewicht dieser Pyramide ist auch Quell des von Kagan detektierten lädierten Wahrheitsbegriffs in der Sowjetunion; dieses zu exportieren bedeutet, die Saat neuer Pyramiden zu streuen. Hierbei ist nochmals zu unterstreichen, dass Putin nicht Russland und das pyramidale Russland nicht dessen einzig denkbarer „Aggregatzustand“ ist. Es gibt und gab immer (mindestens) ein anderes Russland. Vielleicht keins ganz jenseits der Pyramide aber doch eines, das an ihr nagt.
Zunächst einmal ist Russland nicht nur das russische Militär. Das Land besitzt eine Zivilgesellschaft und zivile Projekt wie der Pleistozän-Park haben schlechthin nichts mit dem Krieg zu tun. Sich gegen Putins Krieg zu positionieren und Sanktionen zu unterstützen bedeutet nicht totale Feindschaft gegen Russland und alles Russische; wenn Sanktionen die Zivilgesellschaft treffen, ist das entsetzlich, etwas, das man – in gewissem Ausmaß! – in Kauf nehmen, keinesfalls zelebrieren sollte.
Über faktische Unschuld hinaus ist seit Beginn der Invasion ein, gemessen an den Umständen, bar jeder ironischen Konnotation, bewundernswerter ziviler Protest zu verzeichnen. Innerhalb von nur zwei Tagen hatten 750.000 Russ:innen eine Petition gegen den Krieg unterzeichnet. Menschen protestieren auf den Straßen, obschon bereits mindestens 4.300 von ihnen verhaftet wurden. Trotz handfester Repression, die weit über kategorische Weigerungen, im Sprachgebrauch zu gendern, das Erzählen sexistischer Witze und anachronistische Gehaltsunterschiede (für sich genommen schlimm genug) hinausgeht, hält sich seit Jahren eine feministische Opposition und ruft auch jetzt zum Widerstand auf. Die verbliebenen Vertreter:innen unabhängiger Pressearbeit tun, was in ihrer Macht steht. Damit mag Putins Schicksal noch nicht besiegelt sein, doch wie im Fall des bewaffneten Widerstands in der Ukraine ist jede Einzelhandlung von Bedeutung.
Ja, „die“ Opposition in Russland hat ihre Schattenseiten. Etwa die „Libertäre Partei Russlands“ (LPR) knüpft primär an Ideen Ayn Rands an, lobt Donald Trump (der Ayn Rands The Fountainhead übrigens als sein Lieblingsbuch bezeichnet; man fragt sich, wie groß die Konkurrenz im trump’schen Bücherschrank sein mag; und der zugleich Putins Invasionskrieg als genial bezeichnet) und hat für Feminismus wenig übrig. Abgesehen von spezifischen Ansätzen wie dem erwähnten Pleistozän-Park spielt das Thema Klimaschutz auch in der russischen Opposition kaum eine Rolle. Es kann gefährlich sein, großherzig über sämtliche Differenzen hinwegzusehen und anzunehmen, dass sich schon alles Wirtschaftliche und Soziale irgendwie richten wird, nachdem ein Krieg erstmal gewonnen ist: ohne die Streitpunkte explizit zu diskutieren bzw. auszudiskutieren, sobald dies wieder möglich ist. Bzw. ist gefährlich, derartig pragmatische Tabus nach Ende eines solchen Krieges langfristig beizubehalten. Im gewissem Umfang lässt sich genau dieser Haltung nach dem Ersten Weltkrieg der Zweite anlasten, nach dem Zweiten Weltkrieg der Kalte Krieg, nach diesem der aktuelle Krieg. Dennoch bedarf es des Friedens, um überhaupt vernünftig über fragliche Themen debattieren zu können. Solange Putin seine Invasion betreibt und Vakuum-Bomben auf Wohnviertel wirft, bereitet es wenig Vergnügen, herzig über Ayn Rands pseudo-philosophischen Schwachsinn zu streiten.

Natürlich verhält es sich auch nicht etwa so, dass die aktuelle Opposition (um Dmitri Gluchowskis Romanfigur „Khan“ zu zitieren) der erste Silberstreif nach ausnahmsloser Finsternis wäre. Bereits die ukrainischen und russischen Großschriftsteller des 19. Jahrhunderts sind keinesfalls mit dem „Pyramiden-Mainstream“ des Zarenreichs gleichzusetzen, von Gogol, über Dostojewski und Tschechow bis hin zum visionären Anarchisten Lew Nikolajewitsch Tolstoi.
Ein essentieller Schritt für die Erosion des Molochs von Iwans bröckelnder Pyramide ist die russische Avantgarde in den modernen Künsten. Deren Beginn markieren die Künstlergruppen Karo-Bube und Eselsschwanz (deren Name seine Rerenz im einer sehr markanten Einstellung des russischen Films Hard to be a God aus dem Jahr 2013 findet; wenn Sie sich den Film ansehen, werden Sie wissen, was gemeint ist). Zu beiden Gruppen gehörten u.a. die prägenden Künstler:innen Natalija Gontscharowa, Michail Larionow und Kasimir Malewitsch.
Einerseits charakterisch ist für deren Schaffen eine spezifisch „organische“ Geisteshaltung, das Bewusstsein, mit moderner Kunst an uralte volkstümliche Ausdrucksformen und Motive anzuknüpfen. Berühmt geworden ist beispielsweise eine Performance vom 14. September 1913, in welcher Gontscharowa, Larionow und Freund:innen in traditioneller Gewandung aber mit kryptischen, auf ihre Gesichter gemalten Zackenmustern und Symbolen durch Moskau zogen. Deklariert als Futurismus, als Schrei nach den Möglichkeiten einer technisierten Gesellschaft, gegen die Rückständigkeit des noch dem Feudalen verhafteten Zarenreichs. Zugleich aber deutlich weniger stumpf-euphorisch als etwa der testosterontriefende italienische Futurismus mit seinem Faible für Rennautos, Lärm und leider auch Faschismus.
Auf der anderen Seite charakteristisch für die russische Avantgarde ist von Beginn an ein Hang zum Extremen, Grenzen- und Gegenstandslosen, zu einer gewissen Bodenlosigkeit: welcher mit der harmonischen „materialistischen Spiritualität“ im Sinne etwa der 1913-Performance in paradoxer Symbiose steht. Die oft nicht bloß lakonische sondern entschieden pessimistische russische Mentalität, die Sorokin dem Vermächtnis Zar Iwans anlastet, wird auf die Spitze getrieben, um letztlich darüber hinausgehen zu können. Eben das, was auch Nietzsche als den „russischen Fatalismus“ bezeichnet: ein Sich-Fügen ins Ausweglose, um dieses so vielleicht zu „überwintern“.
Ihren Ausdruck findet jene Mentalität etwa im Stil des Suprematismus. In diesem – etwa in seinem Gemälde Schwarzes Quadrat – sah Malewitch, vielleicht durchaus zurecht, den „Endpunkt der Malerei“, eine Sackgasse, eine tote Kuppe, nach der es auf herkömmliche Weise nicht weiter aufwärts geht: wodurch jedoch die Möglichkeit absoluter Transzendenz eröffnet wird. Das Bestehende wird nicht einfach ignoriert, um sich etwas Neuem zu widmen, sondern bis hin zum Unterträglichen ausgereizt – um dann erst darüber hinaus zu denken, sich davon zu befreien.

Sorokins Logik folgend lässt sich argumentieren, dass diese suprematistische Tendenz die Irrationalität im Wesenskern der Pyramide erfahrbar macht. Der davon ausströmende Nihilismus wird ins Licht gezerrt, seziert, gekreuzigt. In der gebotenen Ruhe, mit Geduld, ohne das Ganze vorschnell abschreiben zu wollen, für besiegt zu halten – wie etwa nach dem Kollaps der Sowjetunion gern attestiert.
Von Beginn an stieß die russische Avantgarde in Russland ihrerseits auf Widerstand. Gontscharowa und Larionow verließen Russland 1915, um wie viele russische Künstler:innen und Intellektuelle nach Paris zu gehen, im westeuropäischen Exil zu leben. Dieses Thema zieht sich durch die Jahrzehnte. So widmete der bereits zu Beginn erwähnte russische Regisseur Andrej Tarkowskij seinen 1983 gedrehten Film Nostalghia der spezifischen Sehnsucht russischer Exilant:innen – zu diesem Zeitpunkt bereits selbst ein solcher.
Gleichwohl blieben die Merkmale der frühen Avantgarde für die Kunst Russlands typisch – etwa für monumentale Filmwerke wie eben Hard to be a God (2013), Rusalka (2007), Faust (2011) oder Andrey Zvyagintsevs Leviathan (2014). Letzterer markiert hierbei einen traurigen, unfreiwilligen Endpunkt. In nachhallenden Bildern (wie einem Walskelett am grauen Strand Sibiriens, Baggerschaufeln, welche wie blutgierige Raubsaurier über ein Haus herfallen) erzählt der Film vom vergeblichen Kampf einer Familie gegen das leviathanische Bündnis von Machtmissbrauch, Korruption, organisierter Kriminalität, Kirche und Staat im modernen Russland. Trotz großem internationalem Erfolg des Films beschloss das russische Kulturministerium daraufhin, keine Filme mehr zu fördern, die „den Geist der Sinnlosigkeit unseres Lebens verbreiten“.
Infolge dessen kam es vor allem zu Produktionen im Geiste einer oberflächlichen russischen Hollywood-Mimikry, wie etwa Silver Skates (2020), oder einer rockerganghaften „Hardcore“-Stimmung, wie bei Hardcore Henry (2015) und der – obendrein haarsträubend ahistorischen und latent antisemitischen – Serie Trotskiy (2017). (Um es gesagt zu haben: selbstredend finden sich auch im jüngeren westlichen Kino Beispiele haarsträubend dreister Propaganda – etwa Red Sparrow, um nur ein besonders offensichtliches zu nennen). In Anbetracht der sonstigen Entwicklungen ab 2014 scheint der Kurswechsel in der Kulturförderung grässlich programmatisch. Putins Invasion und vor allem die Fortführung des als „Blitzkrieg“ gescheiterten Konflikts lässt sich mit einiger Berechtigung als nihilistisch bezeichnen. Und was wäre nihilistischer, als die Auseinandersetzung mit dem schieren, hypothetisch in Betracht gezogenen Gedanken universeller Sinnlosigkeit von vornherein auszuschließen?
Sich der Sinnlosigkeit zu verweigern, sie überwinden zu wollen, ist nicht das gleiche, wie den Gedanken daran zu verbieten. Eben darin wird offenbar, weshalb das „westliche“ Modell liberaler Demokratien zu bevorzugen ist: selbst, wenn vor allem der wirtschaftliche Erfolg Chinas zunehmend infrage stellt, ob (weitgehend) freie Märkte, zumal im digitalen Zeitalter, wirklich zwangsläufig auf (analoge) dezentrale Datenverarbeitung durch demokratische Regierungen, Pressefreiheit und Menschenrechte angewiesen sind, um materiellen Wohlstand zu erzeugen. Man mag befinden, dass die westliche Lebensweise zu Überdruss, Desillusionierung und ebenfalls Nihilismus führt. Aber, das ist der Kern von Nietzsches Denken, da müssen wir durch. Um zu sehen, wohin man gelangt.

Demokratie, Freiheit und alles, was die Leute gern implizit in diese Worte stopfen, bedeutet nicht (notwendigerweise), langweilig, gemäßigt und schlaff vor sich hin zu leben, sondern das Potenzial zum Gegenteil!
Es ist nicht in irgendeinem pathetischen Sinne schicksalhaft, als passender Zufall aber doch durchaus bezeichnend, dass der ukrainische Präsident Selenskyj als Gesicht des Widerstands gegen die russische Invasion ausgerechnet ein früherer Komiker ist. Ein zum Politiker gewordener Clown, beinahe wie eine ausgedachte Kunstfigur: obendrein von auffallend kleinem Wuchs und jüdischer Herkunft, als hätte ein übermotivierter Arthouse-Regisseur beim Erdenken der Handlung noch schnell eine Hommage an Chaplin einbauen wollen. In diesem Sinn eine geeignete Gallionsfigur: zum Durchbrechen der (allemal von meiner Generation in der Postmoderne aufgewachsener Kinder quasi von klein auf erlernten) Unfähigkeit, Dinge anders als ironisch zu betrachten. Nicht alles bis zur Gleichgültigkeit zu dekonstruieren. Ernsthaftigkeit durch Ironie als solche – auf der Metaebene eingestandenermaßen naiv: und somit auf der Metaebene der Metaebene wieder hintersinnig.
In Figuren wie Donald Trump oder Wladimir Putin die Alternative zu einem empfundenen Zwang zu Maßhalten und politsicher Korrektheit sehen zu wollen, beruht auf verkehrten Annahmen und ist darüber hinaus Ausdruck schlechten Charakters. Was Selenskyjs Klamauk-Hintergrund jedoch zum Ausdruck bringt und ihn zu einem regelrechten Anti-Trump macht, ist der eigentliche Wert von Freiheit: als Fundament des Auslebens echter Alternativen, auch, falls Sie kulturpessimistisch veranlagt sind und den größten Teil dessen, wozu Menschen ihre persönliche Freiheit nutzen, (zurecht? Zu unrecht?) für primitiv-debilen Schund halten. Auch, wenn diese Alternativen partiell unzweifelfaft lachhaft sein mögen, trivial, geschmacklos. Oder Schwarzweiß:
Echte Demokratien nach westlichem (oder sonstigem tatsächlich demokratischem) Modell als Alternative zu den Regierungs- und Lebenskonzepten von Ländern wie Russland zu begreifen und sie, bzw. die Ukraine als deren plötzlich zum tragischen Vorzeigeprojekt avancierten Vertreter, aus diesem Grund zu verteidigen, ist die richtige Legitimation für ein – zu diskutierendes – Maß dessen, was aktuell im Westen vor sich geht. Wie valide diese Legitimation ist, hängt, so nochmals Slavoj Žižek, davon ab, wie authentisch die Demokratie ist. Wie erstrebenswert die Alternativen in der Praxis sind. Ob man z.B. bereit ist, Flüchtlinge nicht nur dann aufzunehmen, wenn sie praktischerweise aus einem europäisch geprägten Nachbarland kommen.
Wir im Westen sitzen bei diesem Krieg und auch sonst, beim Grauen der globalen Erwärmung, beim Test wahrlich dystopischer Anwendungen technischer Errungenschaften, bei allen anderen heraufdämmernden Katastrophen des 21. Jahrhunderts, nicht in der ersten Reihe. Aber wir haben Logenplätze. Sind mit dabei. Und es ist Zeit, die Vorstellung abzubrechen. Ein neues Stück zu fordern. Ohne, dass der nukleare Vorhang fällt. Der erste Schritt muss sein, die Loge zu verlassen – oder so zu nutzen, umzugestalten, dass sie dem Abbruch dientlich ist.

Bei Sorokins Pyramiden-Metapher gilt zu bedenken, dass es sich bei der heutigen Iteration der russischen Pyramide zugleich um eine Proxy-Pyramide Chinas handelt. Im Falle Chinas wurzelt das Narrativ, man müsse das Walten der Machthaber unkritisch akzeptieren, weniger in dem Fatalismus, irrationale Grausamkeit nur durch lethargisches Ertragen überleben zu können. Vielmehr in demjenigen, dass ein pyramidales Großreich weisen Führern ermöglicht, möglichst viel Gutes zu bewirken – oder dass es zumindest zu Stabilität und langfristiger Harmonie führt, Weisheit der Führer hin oder her. Zumindest Propaganda-Blockbuster wie Hero bringen die Sichtweise zum Ausdruck, dieses Denken sei seit Jahrtausenden Kern der chinesischen Kultur. Auch ist nicht ganz abwegig, dem Konfuzianismus zu unterstellen, wenigstens latent in eine solche Richtung zu tendieren.
Gleichwohl gibt es ein alternatives China, wie es ein alternatives Russland gibt. Im Gegensatz zum autoritären Konfuzianismus ist Laotses (vermutlich älterer) Daoismus höchst schwer mit Imperialismus oder dem regelrecht manischen Streben nach Wachstum vereinbar. Teil wird er gar als frühester Ansatz anarchistischen Denkens angesehen. Der aktuelle Konflikt ist nicht der zwischen „westlicher Zivilisation“ und „östlicher Zivilisation“ – in der heutigen Welt von separaten Zivilisationen zu sprechen ist generell idiotisch – sondern zwischen dem Aufrechterhalten bestimmter archaischer Machtstrukturen in postmoderner Form und dem emanzipatorischen Bruch mit solchen. Meine Damen und Herren: die gute alte Aufklärung, im eigentlichen Sinne. Zeigen Sie sich solidarisch mit der Ukraine – und mit Emilia Galotti.

Man muss sich nicht durch die versnobten Sprachgebirge Adornos quälen, um zu erkennen, dass Aufklärung und „Moderne“ nicht nur Gutes bewirkt haben. Wie schon betont: bei der Konstruktion neuer Narrative sollte man vorsichtig zu Werke gehen.
“There will be no quiet place on this earth for you. Except for the grave.”
So Zelenskyj, gerichtet an die Verantwortlichen russischer Angriffe auf Zivilist:innen. Es ist Krieg, martialische Rhetorik ist ein Symptom von Krieg, ist vielleicht unerlässlich. Spätestens, wenn im Nachhinein aus dem Zusammenhang gerissen, verschlagwortet, können solche Phrasen jedoch ihrerseits gefährliche Wirkung entfachen. Putins Krieg ist nicht bloß auf materieller Ebene zerstörerisch. Besonders mit der direkten Gleichsetzung Putins mit Adolf Hitler sollte man äußerst vorsichtig sein: zwar ist Hitler ebensowenig identisch mit dem Deutschland seiner Zeit wie Putin mit dem heutigen Russland, dennoch war Hitlers Rückhalt in der deutschen Bevölkerung, sofern sich dies in beiden Fällen überhaupt annäherungsweise schätzen und mieteinander vergleichen lässt, wesentlich höher als derjenige Putins in Russland. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die russische Bevölkerung in ihrer jetzigen Konstitution die Todessehnsucht eines „totalen Krieges“ begrüßen würde. Gewiss, Putins vorgeblich reaktive Kriegserklärung erfolgte zwar nicht um 05:45, jedoch um um 05:30 (Moskauer Zeit), worin wohl kaum die einzige Parallele besteht. Gleichwohl muss man in der jetzigen Situation fähig bleiben, diese in ihrer Einzigartigkeit möglichst objektiv zu analysieren, statt in die Falle voreingenommener Fehlbewertung zu tappen, als wäre es „bloß“ ein Remake des Zweiten Weltkrieges.
Die Diagnose ist Fundament der Behandlung – der zu verteidigenden und/oder anzustrebenden Alternative. Wie genau diese aussehen soll, darüber kann und muss diskutiert werden. So argumentiert der israelische Historiker Yuval Harari, der aktuelle Krieg sei speziell für Deutschland der richtige Anlass, als primäre außenpolitische Handlungsmaxime nicht länger die Abgrenzung von seiner nazionalsozialistischen Vergangenheit zu setzen, sondern sich, an diese Abgrenzung anknüpfend, einer gegenteiligen Rolle als (eine) entschlossene westliche Führungsmacht anzunähern. Für eine positive Identifikation mit einer besseren Zukunft statt einer negativen mit der Vergangenheit.
Dies mag kein grundverkehrter Ansatz sein – allerdings darf es nicht dazu führen, die Komplexität der deutschen Vergangenheit abhaken zu wollen. Das Schlagwort der „Zeitenwende“ ist womöglich nicht unpassend; es kann nötig bzw. gar wünschenswert sein, dass Deutschland und Europa in der entstehenden neuen Welt eine andere Rolle einnehmen. Jedoch muss eine angemessene Erinnerungskultur Teil jedes entsprechenden Narrativs bleiben.

Der deutsche Sprachraum hat immer zwischen der kulturellen Ausrichtung nach Westen oder Osten geschwankt. In vielerlei Hinsicht wohnt dem spezifisch Deutschen etwas zutiefst Banales inne, von manchen, oft panisch zur Kompensation zitierten, Dichtern und Denkern einmal abgesehen – denen „der deutsche Geist“ womöglich eher als klares Feindbild dienlich war, gegen das zu rebellieren erst Anlass zu individueller Entfaltung und Größe gab. Andererseits kommt Deutschland als territoriales „Herz“ Europas die Rolle eines Vermengungsbehälters zu, eines zivilisatorischen Totraums, dessen Insass:innen in jeder Richtung etwas Interessanteres finden und sich, die eigene Identität, Eklektizismus hin oder her, aus Versatzstücken vergleichsweise frei konstruieren können (oh ja, was sonst ist das abgedroschene Motiv der Italienreise, bei Goethe, bei Thomas Mann? Was macht Kafka aus, wenn nicht das deutschsprachig-dialektische Eintauchen ins „Kafkaeske“ der slawischen Mystik, deren Weiterspinnen in modernistischen Ausdrucksformen? Weshalb sonst Joseph Beuys‘ Identifikation mit tartarischem Schamanismus und der Beteiligung des Deutschen Anarchasis Cloots an der Französischen Revolution? Nannte man es nicht „Das Heilige Römische Reich“ – erst ab dem späten 15. Jahrhundert ergänzt um: „deutscher Nationen“? Selbst die abscheulichen Arier-Phantasien der Nationalsozialist:innen laufen letztlich darauf hinaus, als Deutsche doch eigentlich wie die eigene verquere Vorstellung von Skandinavier:innen sein zu wollen – man denke an Filme wie Opfergang. Und so weiter…).
Adäquate Gegenreaktion zu Putins Angriffskrieg könnte demnach sein, sich paradoxerweise gerade an etwas Russischem zu orientieren: der erwähnten Form russischer Avantgarde. Reiner Futurismus sollte sich für Deutsche (und Italiener:innen und Spanier:innen – und in seinen radikalen, faschistoiden Ausprägungen generell) durchaus verbieten. Effizienz um der Effizienz willen kann zu industrieller Menschenvernichtung führen – als Beweis dessen ist und bleibt das Gedenken des Zweiten Weltkriegs von bleibendem Wert. Ein Experiment, dass nie hätte durchgeführt werden dürfen und das, einmal gemacht, umso definitiver nie wiederholt werden darf. Was die russische Avantgarde beweist, ist jedoch, dass Futurismus gerade in Kombination mit „Suprematismus“ fähig ist, organisch ans Bestehende anzuknüpfen und dieses konstruktiv zu transzendieren. Eine lebendige Erinnerungskultur des absoluten Grauens der 1930er und 1940er Jahre erfüllt gewissermaßen die Rolle eines solchen Suprematismus; der Nationalsozialismus bildet einen kaum zu übertreffenden Endpunkt der Zivilisation, so wie Malewitschs Kunst einen der Malerei darstellt. Streben nach Neubeginn kann und muss darum in Symbiose stehen, organisch erfolgen: dann aber umso entschiedener.

Ein recht obskures doch passendes Beispiel ist hierbei die slowenische Konzept-Band Laibach. In deren Shows inszenieren die Bandmitglieder Elemente nationalsozialistischer, stalinistischer oder anderweitig autoriärer Ideologie: welche durch ans Absurde grenzende „Überidentifikation“ mit dem Adaptierten in ihrer Sinnentleertheit vorgeführt, gewissermaßen in Anführungszeichen gesetzt – und transzendiert wird. Zentrales Element des obigen Band-Logos ist das Schwarze Kreuz, ein weiteres suprematistisches Gemälde Malewitschs. Ihrerseits daran anknüpfend orientieren sich Stil und Logo der deutschen Band Rammstein explizit an Laibach – in ihren besten Momenten adaptieren sie das Konzept auch inhaltlich (wenngleich ggf. etwas „konsumfreundlicher“ und mit mehr Spezialeffekten).
Wenn Deutschland, Europa und die Gesamtgemeinschaft des Westens infolge des neuen Krieges versuchen, ihr Selbstverständnis anders zu definieren, darf die Vergangenheit nicht unter den Tisch fallen: seien es der Nationalsozialismus, der Kolonialismus oder andere Menschheitsverbrechern. Vielmehr muss deren Gedenken analog zum Eselsschwanz, zu den genannten Bands, als suprematistisches Element bestehen bleiben, wenn nicht gar ausgebaut werden – ohne bei künftigen „Auftritten“ auf exzessive Feuershows zu setzen. Eher auf selbstbewusste Soft-Power-Ansätze wie ein „Green Manhattan Project“ – oder einen „Green New Deal“, die helfen können, die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen durch die Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen insgesamt zu überwinden.

Um es anschließend noch einmal festzuhalten: ich bin keinesfalls darauf aus, für herkömmlichen Patriotismus zu plädieren oder gar zusätzlich noch die Schrecklichkeit der Vergangenheit in ihrer „Krassheit“ zu feiern, im Sinne eines triumphalen „Schaut her! Aus dieser Hölle ging ist unsere stolze Nation hervor!“. Was aus meiner Sicht in Betracht gezogen werden sollte, ist, die Erinnerung des Grauens als solchem in einem auf Dauer gerade noch erträglichen Maß lebendig zu halten und partiell im Alltag zu verankern (allemal indem z.B. deutsche Schulklassen Konzentrationslager besuchen – was in meiner persönlichen Schulzeit nie auf dem Stundenplan stand; auch sollte dergleichen nicht zum Klamauk verkommen, wie innerhalb der Handlung des großartigen Films Finsterworld), um quasi fortlaufend mit dem Alten abzuschließen und sich so wahrlich davon zu loszumachen, statt lediglich wegzusehen. Das „Gefängnis“ belastender Vergangenheiten so konsequent nicht verlassen zu wollen – bis dies schließlich befreiend wirkt.
Faktisch besteht in Deutschland eine Erinnerungskultur, auf die man als Deutsche:r weitaus stolzer sein kann als auf „Leistungen“ in Wirtschaft, Fußball oder dem Guinnessbuch der Rekorde. In bestimmten Zusammenhängen auch gegenüber Ländern wie Frankreich oder Belgien. Wäre in der tagesaktuellen Politik nicht umfassend von einer deutschen Zeitenwende die Rede und würde die Frage nicht explizit aufgeworfen (von seriöseren Denker:innen als dem AFD-Stammtisch), wäre ich keineswegs dafür, sie überhaupt zu stellen oder nach neuen Antworten darauf zu suchen.

Die westliche Welt ist, eventuell, moralisch, unter bestimmten Blickwinkeln, gar nicht so viel besser als autokratische Staaten: allerdings bietet sie ungleich größeres Potenzial, etwas an ihr zu verbessern. Mit „dem Westen“ verteigt man auch die Möglichkeit, gegen diesen allzu realen Westen zu opponieren.
Ein konkretes, vielleicht etwas sehr konkretes Beispiel hinsichtlich der Durchmengung westlicher und östlicher Kultur im Sinne aktiver Zitation, Konstruktion und Amalgamation, wie sie an dieser Stelle anregt werden soll, ist, was ich hiermit unter dem Arbeitstitel des „Stalker-Mythos“ zusammenfassen möchte. Eine Reihe einander indirekt adaptierender und dabei stets maßgeblich variierender Erzählwerke in verschiedenen Medien – die zudem angenehm zwischen „Hoch-“ und „Pop“-Kultur oszilliert. Als Beginn kann H.P. Lovecrafts Erzählung The Colour Out of Space von 1927 angesehen werden, auf deren Basis die russischen Schriftsteller-Brüder Arkadi und Boris Strugazki 1971 den Roman Picknick am Wegesrand verfasst haben. Acht Jahre später wurde dieser von Andrej Tarkowskij, ebenfalls in Russland, als Stalker verfilmt. Den Film wiederum hat das ukrainische Entwicklerstudio GSC Game World 2007 mit dem Videospiel S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl neu interpretiert (zu dem inzwischen mehrere Fortsetzungen erschienen sind). Elemente aus diesem wiederum greift der russische Schriftsteller Dmitri Gluchowski in seinem Roman Metro 2033 auf, welcher abermals von einem ukrainischen Studio, 4A Games, als gleichnamiges Spiel inszeniert worden ist. Sowohl Roman als auch Spiel haben mittlerweile ihrerseits zahlreiche Sequels erhalten. Ebenfalls an das wuchernde Myzel an knüpfen Jeff VanderMeers Romanreihe Southern Reach und deren recht freie Verfilmung Annihilation. Weitere nennenswerte Ableger sind der deutsche Film Die Farbe, Monsters, Monsters: Dark Continent und Color Out of Space. Jede Iteration steht gänzlich für sich, ist in gewisser Form repräsentativ fürs jeweilige Produktionsland – doch (fast) keine davon ist ohne die jeweiligen Vorgänger vorstellbar, jede transferiert typische Ausdrucksformen und/oder Motive aus den fraglichen Kulturkreisen in eine für den eigenen typische Erzählung. Eine Blaupause internationalistischen Storytellings – und intentioneller Vermengung. Im Rahmen des gegenwärtigen Krieges allemal sehenswert ist das folgende, kürzlich von GSC Game World veröffentlichte Meta-Making-of-Video zum nächsten S.T.A.L.K.E.R.-Spiel (man beachte in der Schlusseinstellung die Birken):
Inwiefern Deutschland und der Westen sich neu erfinden müssen, um ihrer Funktion als demokratische Alternative ausreichend gerecht zu werden, bietet reichlich Diskussionsbedarf. Die Frage, ob sie danach streben müssen, ist jedoch spätestens mit der Invasion vom 24.02.2022 obsolet geworden. Bereits die abstrakte Idee einer besseren Alternative, der Wunsch danach, das Bekenntnis dazu, ist (ein) zentraler Auslöser dieses Krieges und des den Globus umspannenden Konflikts, dessen momentanes Glutzentrum er darstellt. Was die alten Pyramiden in der globalisierten Welt zum Wanken bringt, ist bereits die Ahnung, dass Alternativen denkbar sind.
Die zunehmend ins Bewusstsein rückende Erkenntnis, dass diese sich eben nicht überall irgendwann von selbst einstellen, durch Handel, Ideenaustausch und die vermeintliche Überlegenheit des Kapitalismus, wie Francis Fukuyama beim Zusammenbruch der Sowjetunion voreilig proklamiert hat, macht die Gefahr für die Pharaonen des 21. Jahrhunderts akut: ein besseres Gesellschaftsmodell ist nichts, was von alleine kommt, worauf man nur geduldig warten muss. Im Umkehrschluss scheint es vielmehr etwas zu sein, das man, wenn überhaupt, aktiv erstreben kann. Das Ende vom bereits bescheinigten „Ende der Geschichte“ bedeutet, dass man Geschichte machen, dass man sie gestalten muss. Und dass dies prinzipiell jede:r kann, überall. Gerade das Schwächeln westlicher Demokratien und Wirtschaften in den letzten Jahren stellt eine Art „Weckruf“ für alle da, für welche die falsche Verheißung auf deren langfristig unvermeidlichen Triumph als Sedativum fungiert hat: und die nun selbst in die Verantwortung geraten, sich aktiv aus alten Machtstrukturen zu lösen.

Wenn Staaten wie die Ukraine sich dem demokratischen Westen annähern wollen, ist dies zugleich eine Forderung – nach der Konstituierung eines solchen Westens, der ggf. nie (sehr) viel mehr als ein Versprechen war. Eine Forderung: zugleich bereits ein performativer Schritt bei deren Begleichung.
Darum hat Xi Jinpings China sich faktisch Hongkong einverleibt, die demokratische Regenschirm-Bewegung mit brutalster Gewalt niedergeschlagen, darum strebt es danach, Taiwan zu erobern. Darum hat Putin den Einmarsch in die Ukraine begonnen.
Ethnisch und kulturell Chinse:in zu sein, bedeutet nicht, unfähig zu Freiheit und Demokratie zu sein. Ukrainer:in zu sein, bedeutet ebenso wenig, unfähig – oder geographisch bedingt unberechtigt – zu Freiheit und Demokratie zu sein. Russ:in zu sein, bedeutet nicht, den Leviathan eines allmächtigen russischen Staates hinzunehmen, wie Putin ihn gegenwärtig zu verkörpern sucht. Europäer:in bedeutet nicht, den Status Quo um jeden Preis als Optimum zu akzeptieren.
нет войне!
Carpe DiEM25!
光復香港,時代革命!
Und vor allem: Слава Україні!
Robert Boehm, Leipzig, 10.03.2022. Letzte Revision am 13.03.2022.
Bildquellen: Pixabay.com, Wikimedia Commons, eigene Abbildung
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