Freiheit, Gleichheit, Playfulness

„Um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt – unsichtbar dreht sie sich.“

Friedrich Nietzsche, Von den Fliegen des Marktes

… womit das obligatorische bedeutungsschwere Nietzsche-Zitat für diesen Artikel abgehakt wäre. Hier geht es um einen Aspekt, welcher im „Blog“ bereits mehrfach angeschnitten worden ist, beispielsweise hier und hier. Mehr vom Gleichen also – da Sie diese Zeilen lesen, gehe ich davon aus, dass es Ihnen – gut genug – schmeckt. Bon Appétit.

Angesichts der sich überschlagenden Krisen – der wirklichen wie imaginären – ist dieser Tage zunehmend die „Systemfrage“ im Gespräch. Sei es als Kampfbegriff oder Diskussionsanlass. Vieles, was lange Zeit als selbstverständlich galt, steht plötzlich wieder auf dem Prüfstand. Insbesondere die guten alten demokratischen Werte werden zum Gegenstand der Debatte – nicht zuletzt durch das Erstarken antidemokratischer Regierungen in den BRICS-Staaten. In diesem Artikel möchte ich keinen Standpunkt formulieren, sondern eine Kategorie zur Bewertung von Standpunkten vorschlagen. Von sozialen Visionen – sowohl im Sinne von Gesellschaftsmodellen und großen Utopien als auch von individuellen Lebensentwürfen. Keinen alternativen Wert: sondern einen ergänzenden. Dabei gilt: dies ist ein Blogartikel – hier wird ein Grundgedanke formuliert. In jedem Fall haben Sie es mit einem Gedankenexperiment zu tun, nicht mit einem letztgültigen Manifest. Eine differenziertere Auseinandersetzung der Kernaspekte finden Sie meinem entsprechenden Fachwerk.

„Demokratische Werte“

… sind nach landläufigem Verständnis z.B. Pressefreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte sowie freie Wahlen. Jene Bestandteile einer Gesellschaftsordnung, die POTENZIELL sowohl ein adäquates Maß an Teilhabe als auch an individueller Freiheit ermöglichen. „Potenziell“ in Versalien: denn sofern wirtschaftliche Aspekte außer Acht gelassen werden, entpuppen sich diese Aspekte allzu oft als zwar notwendige, allerdings nicht hinreichende Bedingung. Wer an akuter Armut leidet und darum kämpfen muss, nicht zu verhungern, hat praktisch gesehen nicht die Freiheit, z.B. eine Partei zu gründen, da er oder sie die ihm/ihr zur Verfügung stehende „Freiheit“ stattdessen nutzen muss, um Geld zu verdienen – und sich dabei vermutlich auch nur begrenzt aussuchen kann, womit.

Nach klassisch liberalem Framing besteht somit ein Konflikt zwischen den beiden Werten Gleichheit und Freiheit. Demnach ist Freiheit gleichbedeutend mit potenzieller Freiheit und die Forderung nach effektiver Gleichheit der Weg zur Knechtschaft. Ergo hat man die weitgehend binäre Wahl zwischen freiheitlich-kapitalistisch-demokratischen und mit der Peitsche für Gleichheit sorgenden planwirtschaftlich-totalitären Regierungsformen.

Dieses alte Dogma gerät ins Rudern, wenn man beispielsweise die heutige Volksrepublik China betrachtet: einen autoritären Staat, dessen Bürger:innen vergleichsweise wenig politische Freiheit im Sinne echter Teilhabe genießen – Im Demokratieindex belegt die Volksrepublik Platz 148 – zugleich aber die wirtschaftliche Freiheit haben, eigenverantwortlich nach individuellem Wohlstand zu streben. Staatskapitalismus, wenn man so möchte.

Wird Freiheit sowohl im ökonomischen wie auch politischen Sinne verstanden, lässt sich valide argumentieren, dass sie und Gleichheit durchaus nicht voneinander losgelöst denkbar sind; ohne ein gewisses Maß Gleichheit gibt es für die ärmeren Teile der Bevölkerung keine individuelle Freiheit, ohne ein gewisses Maß an Freiheit keine echte Gleichheit: einige würden gern etwas anderes machen (z.B. Startups oder Banken gründen), andere können das tun, was sie möchten (z.B. Dienst nach Vorschrift machen und dann freitags kegeln gehen). Wie Étienne Balibar mit seinem Konzept der „Gleichfreiheit“ darlegt, wurden die beiden Werte bereits in der Französischen Revolution als untrennbare Teile eines Ganzen gedacht. Dass sie in den folgenden Jahrhunderten meist als Gegensätze empfunden wurden, muss man bei näherer Betrachtung nicht als Widerspruch betrachten; so stellt z.B. Hannah Arendt eindrucksvoll dar, dass die Französiche Revolution (im Gegensatz zur Amerikanischen) nicht zu (relativer) Freiheit führte, da kein ausreichendes Maß an verteilbarem Wohlstand und somit herstellbarer Gleichheit vorhanden war.

Dieser Logik folgend ist weitgehend zwecklos, zu diskutieren, ob man Freiheit oder Gleichheit möchte – zielführender wäre, das jeweilige Maß zu verhandeln. Dabei lohnt sich ein zweiter Blick auf die Französische Revolution: zu deren zentralen Werten neben den beiden ersten auch „Brüderlichkeit“ zählt. Als Emulgator, wenn man so möchte – als Richtwert für das Maß der anderen. Schon bei Beethoven, bereits bei Schiller ein eher vager Wert – wie etwa Slavoj Žižek unterhaltsam darlegt. „Alle Menschen werden Brüder…“ – sofern diese Zeile kein Aufruf zu globaler Inzucht sein soll, kaum ein hilfreiches Kriterium zur Bewertung konkreter Gesellschaften. Offenkundig war den Vordenker:innen der Moderne die Problematik bewusst: und ihnen fiel nichts besseres ein, als auf den guten Willen der Leute im Allgemeinen zu vertrauen.

Interessanter ist, dass die drei großen Ideologien des 20. Jahrhunderts sich nach dieser Perspektive grob den ursprünglichen französisch-revolutionären Werten zuordnen lassen. Während im Liberalismus Freiheit im Vordergrund stand, lag der Fokus der sozialistischen Staaten eher auf Gleichheit. Im Faschismus standen offenkundig weder Freiheit noch (universelle) Gleichheit allzu hoch im Kurs – vielmehr ein fanatisches Vertrauen auf schwammige Konzepte wie die „Einheit der Volksmassen“. „Brüderlichkeit“: im fragwürdigsten Sinn des Wortes, als Solidarität im Geiste männlicher bzw. soldatischer „Kameradschaft“. Gutgläubigkeit – mit denkbar fürchterlichen Folgen.

Schön. Gut. Aber:

Was tun?

Vom Standpunkt des Jahres 2022 betrachtet, war der Faschismus offenkundig eine Katastrophe, der Sozialismus (nach bolschewistischem Rezept) ist im Langversuch evident gescheitert und der Liberalismus kränkelt auch gewaltig: verdanken wir ihm schließlich die Probleme, denen die Welt sich gerade widmen muss. Naheliegend ist, die demokratischen Werte um ein paar unverzichtbare Stellschrauben zu erweitern: beispielsweise Umwelt- und Klimaschutz. So wie freie Wahlen ohne Pressefreiheit weniger Sinn ergeben (man denke an die bedrohlichen Entwicklungen in Ländern wie Ungarn und Polen), verlieren sie zunehmend ihre Relevanz, wenn die natürlichen Lebensgrundlagen wegfallen, über deren Verwendung letzten Endes abgestimmt wird. Darüber hinaus kommt man kaum darum herum, die ursprüngliche Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit neu zu stellen. Mögliche Antworten kritisch zu prüfen. Nach dabei hilfreichen Werten zu suchen.

Ein solcher Wert, dessen Wert mit den gegenwärtigen Krisen zunehmend fraglich wird, ist das, was seine Kritiker:innen gerne als „Neoliberalismus“ brandmarken. In erster Instanz kein konkretes Wirtschaftsmodell, keine politische Agenda, sondern ein philosophisches Paradigma. Ein Memplex. Bestehend aus drei simplen Kernsätzen:

  1. Der beste Weg, über Gesellschaften nachzudenken, ist, diese als ein Menge atomisierter Einzelindividuen zu denken, die rational konkurieren, um ihren jeweiligen Nutzen zu maximieren. „There’s No Such Thing as Society!“
  2. Der beste Weg, den Erfolg von Gesellschaften zu messen, ist Wohlstand im Sinne des BIP.
  3. Die Rolle von Regierungen besteht darin, freien Märkten einen Rahmen zu bieten, da freie Märkte im Sinne des ersten Punkts der beste Weg sind, konkurierende Individuen dazu zu animieren, das BIP zu steigern.

Von diesen Kerngedanken leiten bereits deren Vordenker – zwielichtige Typen wie Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman – meist ab, dass Staaten sich gefälligst aus der Wirtschaft heraushalten und Bürger:innen möglichst wenig sozialstaatliche Hilfestellung bieten sollen, da langfristig jede:r am besten geholfen ist, wenn jede:r sich selbst hilft bzw. helfen muss. Wenn sich die Leute nur ausreichend als Unternehmer:innen begreifen und Freiheit zu schätzen wissen, braucht niemand proaktiv für Gleichheit sorgen; z.B. braucht keine anständige Unternehmer:in Kündigungsschutz, oder? Übrigens genau die Logik, der wir geschmacklich fragwürdige Begriff-Chimären wie die „Ich-AG“ verdanken.

Nicht erst die aktuelle Krisenlage zeigt, dass allzu große Ungleichheit – zwangsläufig Produkt einer solchen Politik – treibender Faktor von Entwicklungen sein kann, die auch bei stetig wachsendem BIP die Zustimmung zur demokratischen Gesellschaft sinken lassen: und somit letztlich auch die Grundlagen freier Märkte gefährden.

Ein der Besprechung werter Ansatz ist „Markthumanismus“; die Idee, nicht freie Märkte als solche infrage zu stellen, sondern deren Rahmen neu zu setzen. Als dessen Bewertungskriterium nicht die eher abstrakt relevante Menge an produziertem und verschobenem Zeug im Sinne des BIP zu setzen, sondern das Wohlergehen der Bevölkerung: die Menge an effektiv gelösten Problemen. Immer mehr fossile Brennstoffe zu verheizen steigert (auf kurze Sicht) das BIP, führt aber offenkundig zu mehr Problemen, als es löst. Weite Teile der Dienstleistungs- und Unterhaltungsbranche mögen keine (existenziell relevanten) Probleme lösen, verursachen aber auch keine. „Soziales Unternehmertun“ löst im Bestfall mehr Probleme, als es schafft; z.B. klimafreundliche Innovationen sind eine gute Sache – damit aber kein intrinsisches Argument gegen „immer neue Verbote und Regulierungen“.

Kritisch gesehen wird die Problematik allerdings auch damit bloß verlagert. Wie viele Probleme sollen gelöst werden – und vor allem welche, in welcher Reihenfolge? Während aus einer neoliberalen Position heraus gegen Arbeitszeitbegrenzungen protestiert werden kann, um fleißigen Bienchen nicht zugunsten parasitärer Faulenzer:innen Steine in den Weg zu legen, ließe sich markthumanistisch folgern, dass mehr Wochenarbeitszeit auch mehr pro Woche gelöste Probleme bedeutet. Wie Wolfgang Leonhard in seinem beeindruckenden Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder schildert, gehörte die Schwächung der sowjetischen Arbeiter:innenrechte zugunsten höherer nationaler Produktionserfolge zu den ersten Schritten nach Josef Stalins Machtübernahme: was in den Augen vieler Sozialist:innen jedoch im ureigenen Interesse derselben Arbeiter:innen lag, da so schließlich die Weltrevolution beschleunigt zu werden schien.

Vor allem bedeutet die Fokussierung aufs Lösen von Problemen eine exklusive Beschäftigung mit Negativem; es geht nicht darum, das Leben möglichst gut zu machen, sondern bloß darum, es so wenig schlecht wie möglich zu gestalten. Hinsichtlich wirtschaftlicher Fragen mag das keineswegs verkehrt sein, man sollte jedoch auch andere Aspekte mit berücksichtigen: wenn alle Übel aus der Welt geschafft wären, was dann? Wenn Sie z.B. Diskrimierung als Problem betrachten: im Sinne der demokratischen Werte geht es darum, dass niemand ausgegrenzt wird. Andererseits sollte es auch darum gehen, wobei.

Neue Antworten auf die Systemfrage machen bloß umso dringlicher, hilfreiche Kriterien zur Evaluation jener Antworten zu finden. EIN solches Kriterium ist vielleicht…

Playfulness

Viele Menschen hegen einen intuitiven Widerwillen dagegen, „Systemfragen“ zu erörtern; nicht ganz zu unrecht. Die Wirtschaftsordnung, das Maß an Pressefreiheit, Möglichkeiten zur politischen Teilhabe … das alles beeinflusst das individuelle Leben, gewiss. Dennoch scheinen utopistische Visionen irgendwie immer das Wesentliche außer acht zu lassen, „der Mensch an sich“ steht nicht im Zentrum der Betrachtung. Die Befreiung der Arbeiterklasse, die Entfesselung der Märkte, der Stolz der Nation – samt und sonders Abstrakta. Phantasmen für heißblütige Jungrevolutionär:innen, die dann am Ende doch Beamt:in werden. In ihrer globalen Dimension weltfremd. Dem gegenüber steht beispielsweise das – heute wie ehedem allemal vorgeblich unpolitischeBauhaus mit seiner Vision, die Zukunft mit dem Mitteln der Kunst zu gestalten, dem man zumindest guten Gewissens attestieren kann, das Antlitz von Küchengarnituren und die Muster auf Duschvorlegern nachhaltig beeinflusst zu haben.

Was aber macht „ihn“ aus, „den“ Menschen an sich? „Allzumenschlichkeit“ als möglichst wertfreies Konzept? Eine zumindest interessante Antwort darauf liefert Friedrich Schiller – als womöglich akzeptable Wiedergutmachung zum Firlefanz der „Brüderlichkeit“:

„Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen seyn werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst tragen.“

Und ja: das Spielerische des Lebens bzw. die je gegebene Möglichkeit desselben ist, was ich hier als Bewertungskategorie vorschlagen möchte. „Playfulness“.

Warum auf Englisch? Zunächst, weil „Playfulness“ eher mit Neugierde, Aufgeschlossenheit, Kreativität und müheloser Leichtigkeit assoziiert wird als der deutsche Terminus „Verspieltheit“, dem ein Geschmack von Albernheit, mangelnder Konzentration und kindischer Blödelei anhaftet. Einer meisterhaften Musiker:in bei der Ausübung ihres Handwerks Playfulness zu unterstellen tendiert Richtung Kompliment, bei „Verspieltheit“ gilt dies deutlich weniger („Hören Sie doch mit Mozart auf, alle hier sind erwachsen, wir möchten Bach hören! Oder ist ihnen das zu schwer?“). Zum anderen bietet die englische Sprache im Gegensatz zur deutschen die Unterscheidung zwischen „Play“ und „Game“. Ein „Game“ ist ein Spiel mit festen Regeln – Fußball, Schach, Getting Over It. „Play“ beschreibt sowohl „Games“ als auch jede sonstige spielerische Aktivität – vom Errichten phantastischer Legoburgen über die Winkelzüge der Verführung bis hin zu Katzen, die Laserpunkte jagen.

Wenn ich für Playfulness plädiere, meine ich (wie bereits hier erwähnt) damit im Wesentlichen NICHT „Gamification“ im Sinne von Lohn- und Strafpunkten wie beim chinesischen Sozialkredit-System, auf das hier später übrigens noch Bezug genommen wird. Was meine ich sonst?

Playful im entsprechenden Sinne sind menschliche Lebensbereiche und Aktivitäten, auf die mindestens einer der folgenden Aspekte zutrifft; dabei bitte ich, nochmals zu bedenken, dass es sich um ein vorläufiges Denkmodell handelt – gewiss lässt sich die Liste maßgeblich erweitern:

  1. Sinn ohne Zweck. Die Sache hat keinen quantifizierbaren objektiven Nutzen bzw. dieser steht nicht im Vordergrund (z.B. können Kunst, Musik und Sport auch im professionellen Bereich durchaus von Playfulness gezeichnet sein), sie wird jedoch subjektiv als sinnstiftend empfunden. In der Extremform läuft dies auf Flow-zustände hinaus, auf einen Tätigkeitsrausch, währenddessen man die Aktivität ausschließlich um der Sache selbst willen ausübt und keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, ob man damit womöglich Geld verdient, ob Gott tot ist oder nicht oder ob der Klimawandel auch die eigene Rente bedroht. Dies trifft explizit und insbesondere auf Aktivitäten zu, denen (nicht zwangsläufig immer ganz zu Unrecht) gern „Eskapismus“ oder „Suchtgefahr“ unterstellt wird: das Spielen von Videospielen, die Lektüre von Belletristik, etc.. Allerdings auch auf das Sammeln von Briefmarken, die Zucht von Rassemeerschweinchen und den ritualisierten Streit beim Familienfest. Erfüllender Zeitvertreib jeder Art, von dem man sich keinen ökonomischen – oder sonstigen: wenn dabei die Rettung der Welt oder eine himmlische Belohnung nach dem Tod im Vordergrund stehen, soll das Playfulness-Label ebenfalls nicht vergeben werdem! – extrinsischen Mehrwert verspricht. Alles, was ggf. erfolgreich von Sinnkrisen ablenkt, ohne darüber hinaus notwendigerweise nützlich zu sein.
  2. Ambivalenz. Die Bedeutung der Sache lässt sich nicht klar bestimmen. Enigmatisches Verhalten, Ironie, doppelbödige Aussagen, allgemein Uneindeutiges. Indirektes Flirten, Geheimhaltung des eigenen Privatlebens, Freude an Kafka und Jeff VanderMeer – bzw. ambivalentem Kram im Generellen. Dinge, die faszinieren, ohne, dass sich die Faszination in drei Sätzen erklären lässt. Vergnügen daran, hier und da zu irritieren.
  3. So tun als ob. Dinge, die offenkundig (oder auch nur vielleicht: womit man zugleich Aspekt Nr. 2 bespielt) nicht so gemeint sind, wie man vorgibt. Deutlich wird dies am Beispiel Subkulturen; z.B. wohnen der Heavy-Metal-Szene in vielen Fällen eindeutig Elemente von Playfulness inne: man tut so, als wäre man Satanist:in, Bösewicht:in und fleischgewordene Antichrist:in. Sobald man selbiges jedoch ernst nimmt – was bekanntlich immer mal vorkommt – geht dieser Anteil verloren. Natürlich kann ebenso … Gangster-Rap eine spielerische Angelegenheit sein, solange man davon nicht die Notwendigkeit ableitet, ernstlich kriminell zu sein oder sexistische Attitüden an den Tag zu legen. Selbiges gilt für die Auseinandersetzung mit Themen wie Okkultismus: diesen in all seiner Absurdität zu rezipieren, etwa in Form einschlägiger Genre-Literatur, kann auf spielerische Art unterhaltsam sein – für handfeste Esoterik, welche sich selbst ernst nimmt, gilt eindeutig das Gegenteil.

Bei allen drei Punkten ist ausschlaggebend, dass man sich des jeweiligen Aspekts bewusst ist: dass man z.B. weiß, dass man gerade etwas Zweckloses anstellt bzw. es nicht um der Konsequenzen willen tut. Sich uneindeutig auszudrücken, ist nur dann Ausdruck von Playfulness, wenn man nicht einfach nur unfähig ist, verständlich zu formulieren, was man eigentlich sagen möchte. Religion ist spielerischer, je eher man sich im Klaren ist, vielleicht nur so zu tun, als wäre der jeweilige Glaube berechtigt.

Übrigens kann das beim ersten Punkt angerissene Extrem von Flow selbstredend auch bei den beiden anderen auftreten; mangelnde Eindeutigkeit erlaubt, gänzlich im Rausch des Vorstellbaren aufzugehen; eine Rolle zu spielen, kann heißen, wenigstens temporär mit dieser zu verschmelzen.

An dieser Stelle nun doch noch einmal Nietzsche. Vergeben Sie mir, ich bin zutiefst korrumpiert. Muhaha, Mr. Bond. Muhaha. Im Sinne der hier skizzierten Definition von Playfulness lassen sich die besten Filetstücke von dessen Werk – insbesondere die Blitz-Alegorie aus Also Sprach Zarathustra – in etwa lesen wie folgt: es ist nicht so, dass den Menschen in der Moderne der Sinn des Lebens abhanden käme; vielmehr hat die Religion der Menschheit über Jahrtausende ein in sich zweckloses Bedürfnis nach Sinn angezüchtet, das im Zuge wissenschaftlicher Fortschritte allmählich als solches erkannt wird: es gibt keinen Sinn und gab nie welchen, aber eigentlich braucht man eben darum auch gar keinen. Bzw. ist das Leben in sich sinnhaft, die Schwierigkeit besteht bloß darin, dies nicht instinktiv auszublenden. Flow-Zustände (und Nietzsches nebulös herbeigeraunte Vision des „Übermenschlichen“ in diesem Sinn zu lesen, ist sicher nicht abwegig) stellen gewissermaßen den Beleg dessen dar. Motivation ohne die Krücke unrealistischer Ideale als Anti-Ideal, Meta-Ideal. Der Glaube daran, dass Menschen, zumindest temporär, über das Bedürfnis nach höherem Sinn und letzten Gewissheiten, über Lebensfreude und Todessehnsucht und so weiter hinauswachsen können, wäre demnach an sich bereits ein möglicher Ersatz für den alten Glauben an Gott und Götzen wie Staat und Volk.

Reizvoll daran, Flow nicht als von allem anderen abgegrenzte Form menschlichen Lebens und Erlebens zu betrachten, sondern als sublime Steigerung von Playfulness, ist, dass Nietzsches Denken damit nicht nur von Interesse ist, wenn man zufällig Spitzensportler:in, Salvador Dalí, Superschurk:in oder orientierungslose Möchtegern-Eugerniker:in ist, sondern auch mit der vergnügten Auseinandersetzung mit Briefmarken, Meerschweinchen, Brettspielen und Schundliteratur resoniert. Gewiss, auf stürmischen Berggipfeln beim Seiltanz zu meditieren, trieft von nietz’schem Tiefsinn, aber bei konsequenter Betrachtung ist beinahe jede Form von erfüllendem Müßiggang genauso im Sinn der Sache. Vielleicht nicht der spektakuläre Blitz, aber doch Brodeln in der Wolke. Nicht anzunehmen, dass Nietzsche sich das so offen eingestanden hätte. Somit genug der Abschweifung.

Also Playfulness. Zweckloses, Ambivalentes, Maskenhaftes. Zum Kriterium zur Diskussion gesellschaftlicher Zustände werden diese Aspekte im Rahmen der folgenden beiden Fragen:

  • a) In welchem Umfang sind Freiräume dafür vorhanden?
  • b) In welchem Umfang erfolgt welche Reaktion auf eine entsprechende Nutzung dieser Freiräume?

Wer beispielsweise 80 Stunden die Woche arbeitet, hat aller Wahrscheinlichkeit nach wenig Zeit, sich schrulligen Hobbys zu widmen; wer sich dieselbe nimmt, wird sich von neoliberal, grenzenlos aktivistisch oder bitter konservativ gestimmten Zeitgenoss:innen eventuell den Vorwurf anhören zu müssen, man könne auch wirklich besseres mit sich anfangen. Ich möchte hier nicht versuchen, zu bestimmen, welches das richtige Maß ist – sondern bloß dazu einladen, Playfulness als einen möglichen Wert in Betracht zu ziehen, der durch die Addition einer dritten Dimension dabei hilft, Abmischungsverhältnisse von Freiheit und Gleichheit und die daran anknüpfende, konkretere Gestaltung von Gesellschaften zu bewerten. Im Anschluss einige in diesem Zusammenhang repräsentative…

Beispiele

Laibach. Die slowenische Band Laibach (schon hier erwähnt) ist für die künstlerische Inszenierung totalitärer Ideologien bekannt – im Sinne der sogenannten „Überidentifikation“. Die ideologischen Versatzstücke werden nicht dekonstruiert, nicht parodiert – sondern eigentlich ganz im Sinne der jeweiligen Weltsicht in Szene gesetzt und glorifiziert: allerdings in übertriebenem Maße. Gewissermaßen wird politischer Fanatismus eben dadurch zum reinen Spiel, dass man so tut, als würde man ihn so unkritisch zelebrieren, wie er selbst explizit verlangt: wovon die jeweiligen Ideologen jedoch implizit durchaus wissen, dass die Forderung nicht realistisch ist. Indem man nicht nur zu einem gewissen Teil sondern exakt tut, was gefordert wird, oder indem man sogar übers Ziel hinausschießt, verhält man sich ambivalent und macht damit zugleich die Ambivalenz dessen sichtbar, womit man sich identifiziert. Im Jugoslawien der 1980er Jahre war dies ein Weg, die sozialistische Hegemonie infrage zu stellen, ohne sie zu kritisieren: und von Beginn an kam es zu Konfliketen mit der jugoslawischen Regierung, Armee und Polizei sowie zu Repressionen, beispielsweise einem mehrjährigen Verbot von Fernsehauftritten der Band. Ein Sozialismus mit spielerischem Antlitz war weder vorgesehen noch erwünscht.

Romantik in der Komintern. Eine weitere, hier interessante Schilderung aus Leonhards Die Revolution entlässt ihre Kinder bezieht sich auf die Zeit des Autors im Schulungszentrum der Kommunistischen Internationale in der Sowjetunion. Nachdem er die Ausbilder:innen über einen Mobbingvorfall seitens eines dortigen Komilitonen einem dritten gegenüber während eines Wochenendausflugs informiert hatte, wurde er zu einer Art inoffiziellem Prozess gerufen: allerdings nicht wie erwartet als Zeuge, sondern als „Angeklagter“. Er sollte sich umfassend dafür rechtfertigen, einen linientreuen Kameraden diffamiert zu haben – und, vor allem, dafür, während des selben Ausflugs spielerisch mit einer spanischen Komilitonin geflirtet zu haben. Beides stand nicht in direktem Zusammenhang mit den Zielen der Ausbildung – war nicht erklärbar zweckmäßig, nicht ganz eindeutig zielgerichtet. Generell scheint man im „Realsozialismus“ wenig für mangelnde Eindeutigkeit jeder Art übrig gehabt zu haben; ich besitze eine DDR-Ausgabe von Im Westen nichts Neues, preiswert erstanden aus der Wühlkiste eines Antiquariats. Dem Roman ist ein Nachwort aus der Feder Hans-Joachim Bernhards hintangestellt, in dem dieser Erich Maria Remarque einerseits dafür lobt, die Schrecken des Krieges anzuprangern, zugleich jedoch ausufernd bemängelt, dass er dabei die tolle Chance auslässt, im Interesse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen die dahinterstehende kapitalistische Kriegsmaschinerie zu beschreiben. Als hätte es keinen Eigenwert, Krieg an sich abzulehnen, solange dies nicht eindeutig aus einer sozialistischen Position erfolgt (die subtile phänomenologische Note des Romans – beispielsweise durch die wiederholte Verwendung des Begriffs „Dasein“ für „Mensch“ – mag Bernhard als gutem dialektischem Materialisten ebenfalls entgangen sein – vermutlich wäre er in helle Panik verfallen…). Die omnipräsente Forderung nach eindeutig erkennbar sozialistisch motiviertem Handeln mag in gewisser Hinsicht stärker zur drückenden Schwere der späten Sowjetrepubliken beigetragen haben als der oktroyierte Sozialismus an sich: dem nicht notwendigerweise jedwede Playfulness abgängig ist.

Videospiele in der Volksrepublik China. Während Videospiele in der nahen Mongolei gegenwärtig einen Boom erleben, geht die Kommunistische Partei Chinas seit letztem Jahr zielgerichtet gegen deren Konsum vor. Anbieter sind gezwungen, die Spielzeit eimnzuschränken: beispielsweise erlaubt der Herrsteller Tencent Spieler:innen nur noch eine Stunde Spielzeit an Werktagen, an Wochenenden zwei. Zudem bekommt man dafür Negativpunkte im Sozialkreditsystem. Yu Xinwen, Vizepräsident der Universität Guangzhou, bezeichnete Onlinespiele als „das neue Opium, das das Wachstum der Jugendlichen vergiftet“. Nun, sicher: zu lange auf Bildschirme zu starren ist ungesund. Und wer gerade Honor of Kings spielt, baut indes keine Autobahnen für die „Neue Seidenstraße“. Der Bestrafung in der Freizeit spielender Erwachsener haftet jedoch etwas Irritierendes an: denn umgekehrt kann man auch ohne Zeitbegrenzung nicht während der Arbeit spielen. Als wäre Freizeit an sich das Problem – und Spielen lediglich deren archetypischste Form. In ihrer paradoxen Zweckfreiheit scheinen Spiele dem utilitaristischen Wertekodex der KPCh zuwiderzulaufen; bereits im europäischen Mittelalter galt Spielen teils als nicht nützlicher – und somit nach kirchlicher Dokrin gottloser – Zeitvertreib (bereits das Wort ist verdächtig: warum nicht Zeitgebrauch?).

Spieler:innen als Narren mit Kappe, Spielen als schändliche Narretei: in Sebastian Brants „Narrenschiff“, 1484.

Der Ruf nach „Finanzieller Bildung“. Die Verdammung des Unpraktischen, nicht Eindeutigen, mag für (nominell) sozialistische Staaten charakteristisch sein; gleichwohl ist er zugleich allzu charakteristisch für neoliberal geprägte Diskurse, z.B. hinsichtlich der ach-so-unpraktischen Schulbildung. Exemplarisch ist der nachstehende Tweet einer kölner Schülerin – sowie, vor allem, dessen exzessive Zitation durch FDP-Politiker:innen:

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“

Gegenüber der Forderung, Investieren zum Teil des Schulstoffs zu machen, kann man verschiedener Auffassung sein (obwohl der Vorschlag der Umweltbank, am besten schon in der Grundschule damit anzufangen, wohl eindeutig etwas weit geht). Problematisch ist viel mehr der Ansatz, Gedichtanalyse dem gegenüber implizit als Zeitverschwendung hinzustellen (ja, die Schülerin ist 18 und wer hat schon Spaß daran, die elenden literarischen Stilmittel auswendig lernen zu müssen? Politiker:innen, die Schüler:innen zitieren, wissen aber sehr wohl, was sie tun). Natürlich ist man damit nicht direkt Stalinist:in; und die erzwungene Beschäftigung mit mittelmäßiger deutscher Lyrik ist auch nicht gerade Quintessenz von Playfulness. Jedoch impliziert die Abwertung von Gedichtinterpretationen aufgrund ihres verhältnismäßig geringen Nutzens für alle, die der Extrapolation fähig sind, dass nutzlose Aktivitäten insgesamt nicht das Gelbe vom Ei sind. Bzw. dass Schulunterricht allein dem Zweck dienen sollte, Menschen zu generieren, die in der Arbeitswelt gut zurechtkommen – und nicht etwa die Entfaltung vielschichter Persöhnlichkeiten zu befördern. Das ist nicht dasselbe wie ein Verbot: allerdings wird der Kategorie Playfulness hier doch weniger wohlwollend begegnet als anderswo.

Opfergang und Die Feuerzangenbowle. Im Zusammenhang der zuvor angestellten Zuordnung von Liberalismus, Sozialismus und Faschismus mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sei hier abschließend betont, dass Playfulness im Verbund mit den demokratischen Werten weit hilfreicher als „Brüderlichkeit“ dabei sein kann, im Einzelfall ein gutes Maß von Freiheit und Gleichheit auszuloten: dass sie allerdings keinen Garant für Humanismus darstellt. Wie ebenfalls hier schon angeschnitten, kann Faschismus unter Umständen durchaus auf finstere Weise spielerischen Charakter annehmen. Ersichtlich wird dies anhand der beiden Filme Opfergang und Die Feuerzangenbowle, beide von 1944. Während letzterer als repräsentativer Durchhaltefilm angesehen werden kann – seichte Unterhaltung, um die deutsche Bevölkerung von den Entbehrungen des zunehmend aussichtslosen Krieges abzulenken – zeichnet sich Opfergang durch eine obskure Todessehnsucht aus. Der Protagonist ist eine Art kolonialer Abenteurer: als Identifikationsfigur fürs nationalsozialistische Publikum steht er dafür, den Nationalsozialismus an sich als eine Art großes Abenteur hinzustellen. Nun jedoch wird diese teutonische Spielernatur in eine Affäre mit der finnischen Nachbarin seiner Verlobten verwickelt; die Nachbarin bekommt später Typhus, der Protagonist steckt sich an. In einem bizarren Opfergang tut die Verlobte so, als sei sie er, um ihre sterbende Nebenbuhlerin in seinem Interesse zu trösten. Sehr ambivalent, angesichts des baldigen Todes der Nachbarin zwecklos, unverhohlene Maskerade. Die Zelebrierung des selbstlosen, bestenfalls „spielerisch“ sinnhaften Opfers macht Opfergang zu einer Art invertiertem Durchhaltefilm: statt Hoffnung auf Licht am Ende des Tunnels zu schüren, darauf, dass der Krieg doch noch gewonnen wird, addressiert der Film ein eher intellektuelles Publikum, um dieses – u.a. vermittels zahlreicher eingestreuter Nietzsche-Zitate – für die Theatralik des Untergangs, eines bis zuletzt ausgefochtetenen sinnlosen Krieges zu begeistern.

Die Feuerzangenbowle derweil ist weit weniger finster. Der Film enthält so gut wie keine explizit ideologischen Momente – höchstens indirekt durch die Darstellung einer romantisch idealisierten (deutschen) Dorfgemeinschaft. Indirekt instrumentalisiert wird Playfulness jedoch in der Gestalt des Oberlehrers Dr. Brett (gespielt von Lutz Götz). Er ist die einzige Lehrkraft, die sich nicht von den Schülern foppen lässt – und zwar deswegen, weil er selbst dereinst ein ausgemachter Lausbub war. Gegenüber seinen gutgläubigen, schusseligen Kollegen wird er zugleich als Repräsentant der Zukunft dargestellt, seine Erscheinung hat erwas streng-schneidiges, anzunehmen, dass ihm auch eine Uniform von Hugo-Boss gut stehen würde (man muss dem Film – dem Film als Kulturprodukt, nicht seinen Erzeuger:innen – zugute halten, dass er keine anprobiert). Analog idenfifizieren sich auch seine Schüler letztlich gerade wegen des Schaberschnacks umso stärker mit der höheren Lehranstalt – und selbiges gilt auch fürs Publikum (wer hätte sich nicht gemerkt, wie man sich „de Dampfmaschin“ vorstellen muss, weil dem Lehrer bei dessen Vortrag die Schuhe gestohlen werden?). Subversion wirkt in diesem Fall systemtragend – und in spezifischer Hinsicht gilt dies auch für das nationalsozialistische System im generellen. Man bedenke: die ersten Aufmärsche der SA in Kleinstädten hatten beinahe Jahrmarktcharakter, lebten vom Spektakel scheinbar nicht ernstzunehmender Kundgebungen. Sicher wirkt eine Überidentifikation im Sinne Laibachs bei rechtsradikalen Versatzstücken gleichermaßen dekonstruktiv wie bei linksradikalen – allerdings müssen sich Musikvideos wie Geburt einer Nation schon ordentlich ins Zeug legen, um den durchschnittlichen Leni-Riefenstahl-Film an lächerlich überzogenem Pathos zu übertreffen, etwa Triumph des Willens. Man bedenke: Die Feuerzangenbowle ist ein im staatlichen Interesse gedrehter Film, während sozialistische Regimes bereits auf viel subtiler subversive Produktionen – wie etwa Milos Formans Anuschka – allergisch reagiert haben. So gilt auch für die Faschist:innen des 21. Jahrhunderts – in AFD, beim Sturm aufs US-Kapitol, beim Angeln in Sibirien – dass sie sich regelrecht in Blödsinn, Ambivalenz und einer ist-doch-gar-nicht-so-gemeint-Mentalität wälzen, während die Linke abermals zunehmend um sprachliche Korrektheit und eindeutige Positionen bemüht ist…

Resümee

Playfulness als politische Kategorie in Betracht zu ziehen, scheint durchaus wiedersinnig. Spiel und spielerische Allzumenschlichkeit liegen jenseits des konventionell Politischen bzw. Ökonomischen, sind archetypisch fürs Apolitische. Wo allerdings Politik das Apolitische bedroht, erlangt dieses politische Dimension. Wieviel Raum gesteht eine Gesellschaft dem für ihren „Erfolg“ scheinbar Irrelevanten zu? Wie sehr wird dieses sozial toleriert, wie sehr akzeptiert? Wie sehr ist ein System zu seiner Legitimation auf eigentlich unpolitische, wirtschaftlich abwegige Aspekte angewiesen?

Das Beispiel Faschismus zeigt, dass Playfulness in keinem Fall als diskursives Allheilmittel gelten kann. Dass sie mit Vorsicht zu genießen ist. Dass zu viel auch wirklich zu viel sein kann. Das Beispiel Sozialismus zeigt, dass ihre Abwesenheit, ihre Verdrängung ein Indikator für krankhafte Zweckversessenheit sein kann: was ironischerweise auch ein schlechtes Licht auf neoliberale Philosophien wirft. Dass vorhandene Kulturformen voller Playfulness zunehmend unter Druck geraten, zeigt, dass diese ehedem stärker willkommen waren: im herkömmlichen Liberalismus war dies der Fall; klassisch-humanistische Bildung mag der Weg des alten Bürgertums gewesen sein, sich mit falschen Federn zu schmücken, hat jedoch auch Charaktere wie Thomas Mann hervorgebracht, denen man eine spielerische Ader gewiss nicht absprechen mag. Als Ausdruck von Elitismus vielleicht kein Musterbeispiel gelebter demokratischer Werte, seinerzeit wohl aber in jeder der drei identifizierten Kategorien von Playfulness herausragend, präsentiert sich insgesamt: die bürgerliche Exzentrik des Dandyismus.

Besonders den Wohlfahrtstaaten der Nachkriegsjahrzehnte lässt sich – die Gefahr irreführender Nostalgie berücksichtigend – zugestehen, (einer breiten „Zielgruppe“) viel Raum für Playfulness geboten zu haben, nicht zuletzt als Nährboden der wohl auch mangels vergleichbarer Alternativen bis heute häufig glorifizierten Gegenkulturbewegungen jener Zeit (falls Sie zu den besonders kritischen Gemütern zählen, mag deren hohes Maß an Playfulness und das des Nazionalsozialismus Sie an Adornos Standpunkt erinnern, wonach Gegenkultur und Studentenproteste der 1960er die Gefahr eines neuen Faschismus bergen – weshalb er es ablehnte, sie zu unterstützen. Allerdings, wenn es ohnehin kein richtiges Leben im Falschen gibt, wozu die Mühe?).

Das soll nicht heißen, dass sozialdemokratische „Gleichfreiheit“ im damaligen Sinne die adäquate Antwort auf heutige Probleme wäre – oder dass sie das Höchstmaß in Sachen Playfulness oder gar demokratischer Gesellschaftsformen darstellt. Gewiss lässt sich in jeder Richtung des obigen Diagramms noch weiter gehen. Eventuell ließe sich der erwähnte Markthumanismus rechts oder sogar rechts oben von Wohlfahrtsstaat und Liberalismus einordnen; auch gleichsam illiberale aber noch spielerischere Ideologien als der Faschismus sind vorstellbar, man denke an die Dystopien aus The Hunger Games, Snowpiercer oder High-Rise.

Idealerweise wirft die Betrachtung des Aspekts des Spielerischen ein hilfreiches Licht darauf, was konkret an früheren sozialen Zuständen besser war – und auch darauf, was sicher nicht.

Falls nicht nützlich: umso besser.


Robert Boehm, Leipzig, 30.08.2022. Letzte Revision am 30.08.2022

Bildquellen: Pixabay.com, Wikimedia Commons, projekt-gutenberg.org, eigene Abbildung


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