Es trägt sich zu, dass dieser Tage John Wick: Chapter 4 im Kino zu sehen ist. Ob man den Film gesehen haben muss? Anschauungssache. Ob es sich lohnt, ihn anzuschauen? Durchaus – sofern man Spaß an geistloser Keilerei oder Franz Kafka hat. Nich zu bestreiten, die Handlung der John Wick-Filme passt auf zwei oder drei Bierdeckel: was allerdings dort steht, ist bei näherer Betrachtung durchaus spannend.
Der erste Teil der Reihe, John Wick, ist auf den ersten (und wohl auch zweiten und dritten) Blick denkbar hemdsärmliger Popkorn-Pulp: der ehemalige Mafia-Killer John Wick, seinerzeit der härteste Knochen im Piranha-Becken, hat sich zur Ruhe gesetzt. Sein Gangster-Clan hat ihn gehen lassen, nachdem er einen scheinbar unmöglichen Auftrag bewältigt und reihenweise feindliche Mafiosi zu Klump geballert hat. Anlass für den Gesinnungswandel war selbstredend eine Frau, die in der Zwischenzeit aber dummerweise verstorben ist. Dem trauernden Witwer bleiben nur ein Hündchen, dass sie ihm zum Trost für ihr Ableben mit letzter Kraft geschenkt hat, und Spritztouren in seinem feschen Sportwagen. Bei einer solchen wird der Sohn seines alten Bosses auf die Karre aufmerksam; da der ihm unbekannte John sie nicht verkaufen möchte, rückt der Bengel nachts – ohne Wissen und Zustimmung seines alten Herren – mit einigen Lakaien an, stiehlt den Wagen und erschießt aus reiner Gehässigkeit obendrein den Hund. Kein kluger Schachzug: John kehrt daraufhin zeitweilig aus dem Ruhestand zurück, macht im Alleingang den gesamten lokalen Mafia-Apparat inklusive Boss und Sohnemann kalt, holt sich sein Auto zurück und besorgt sich konsequenterweise auch einen neuen Hund. Ende.
Viel geradliniger kann ein Film kaum sein. Und weniger nach einem Sequel schreien im Grunde auch nicht – geschweige denn nach (bis jetzt!) drei davon, noch dazu betitelt mit „John Wick: Chapter 2 – 4“, als wären es „Kapitel“ einer noch nicht auserzählten Gesamthandlung. Entsprechend wirkt besonders der zweite Teil ein wenig unrund und orientierungslos – als hätte der Autor auch nicht recht gewusst, welchen Weg er einschlagen möchte. Dies mag durchaus der Fall gewesen sein: in Gedenken an Roland Barthes wollen wir hier jedoch so offen sein, den Film ausschließlich im Rückblick bzw. dem Kontext der Gesamtreihe zu betrachten.
In Teil Zwei werden einige bescheidene Ansätze des ersten Films aufgegriffen, durch unkonventionelles Worldbuilding über reine Gangster-Fiktion nach alter Väter Sitte hinauszugehen. Beispielsweise gibt es ein Hotel (das „Continental“), dass von den Mitgliedern der rivalisierenden Mafia-Organisationen als neutrales Territorium behandelt wird: dort jemanden zu meucheln gilt als Tabu, wer dieses bricht, wird quasi vogelfrei. Daran wird in der Fortsetzung angeknüpft: wird jemand entsprechend vogelfrei, spricht man von „Exkommunikation“, es geht um Schuldmünzen, eine in Rom tagende „Hohe Kammer“ als übergreifende Regierung der globalen Unterwelt und ein Netzwerk freiwilliger Obdachloser als Spione bzw. Informationshändler. Wirklich verlassen wird der Boden des konventionellen Mafia-Films noch immer nicht, allerdings ist alles so groß angelegt und überzeichnet, dass es schon am Absurden kratzt – beispielsweise gibt es eine Szene, in der ein Kopfgeld auf John Wick ausgesetzt und allen Auftragskillern in New York per SMS angekündigt wird; er weilt gerade in einem Park: und bei so gut wie jedem zufällig anwesenden Passanten schrillen gleichzeitig die Handys!
Teil drei treibt diese Tendenz weiter: die Regeln der Unterwelt erscheinen immer mehr wie die Gesetze einer Fantasy-Welt (gewissermaßen: Harry Potter mit Automatikpistolen statt Zauberstäben), es gibt nicht mehr nur ein Gremium finsterer Mafia-Chefs, sondern regelrechte Institutionen – wie z.B. eine riesige Halle voll stilbewusster Sekretärinnen, die über Kopfgelder und Schulden Buch führen, eine Münzstätte zum Prägen der im vorgänger-Film etablierten Schuldmünzen, in der die erste jemals von Menschen geprägte Münze (!) aufbewahrt wird, eine als Botin der Hohen Kammer fungierende „Richterin“, die Akte der Selbstverstümmelung als Sühne abweichlerisch gewordener Verbrecher einfordert … zunehmend erscheint die Mafia weniger als bloßer Parasit der Gesellschaft, sondern vielmehr deren wahres Wesen, als omnipräsente Schattenregierung einer uferlos korrupten Welt. Gipfel des Ganzen ist, dass diese Schattenregierung ihrerseits korrupt ist und aus dem Schatten von jemand anderem gelenkt wird: einem zwielichten Beduinen, der mit Kamel und Zelt in der nordafrikanischen Wüste herumvagabundiert wie einst Kaiser durch ihre Pfalzen. Aus der Raupe des gut aufgelegten Massakers im ersten Teil ist etwas geschlüpft, dass sich beinahe als neues Genre deklarieren lässt: eine Art Crime- oder Noir-Fantasy.
Kapitel Vier fügt abschließend noch alten Mafia-Adel (verkörpert von der Figur des „Marquis“), eine Duell-Tradition und einen vom Eifelturm (!) aus sendenden Radiosender speziell für Kopfgeldjäger hinzu – und bringt das ganze Spektakel zu einem runden Abschluss.
Darüber hinaus ist die konkrete Handlung der drei letzten Filme für die Belange dieses Artikels nicht weiter relevant; John muss irgendeine alte Schuld begleichen, wird dabei hereingelegt und gerät in Konflikt mit der Hohen Kammer, daraufhin stehen dann abwechselnd er und alle übrigen Kriminellen der Welt in der Verantwortung, sich gegenseitig ins Jenseits befördern – John helfen dabei wahlweise ein paar Hunde, ein Paar Pferde oder auch Halle Berry; gewürzt ist das mit fröhlichen filmgeschichtlichen Referenzen (im dritten Film muss John vom Tarkovskij-Theater nach Casablanca reisen…) und einem feschen Soundtrack – nicht zuletzt einer französischen Cover-Version von Paint it Black..
Bei all dem geht es nie besonders intellektuell zu. An der Oberfläche scheint schon der erste Teil ein ganz schön platter und bei kritischer Betrachtung auch durchaus gewaltverherrlichender Film zu sein: um den toten Hund zu rächen und das geklaute Auto zurück zu bekommen – sentimentaler Wert hin oder her – wird inkauf genommen, Dutzende Menschen umzubringen (um genau zu sein: im ersten Film belässt es John bei „nur“ 84 Toten, im zweiten ist unter 128 nichts zu machen, im dritten hält er sich mit 94 ein wenig zurück – für Teil Vier sind derzeit noch keine verlässlichen Zahlen zu finden, es sind jedoch mehrere Hundert…).
Je mehr Distanz man jedoch zum konkreten Geschehen einnimmt, desto interessanter wird die Reihe. Man hat es gewissermaßen mit absolut genialen Filmen zu tun, die in weniger genialen stecken, die widerum in hahnebüchenem Unsinn stecken und so weiter; die Diagnose lautet Matroschka-Autismus (konzeptuell erstmals umrissen im wegweisenden Gedankenexperiment Elsterglanz und der Schlüssel für die Weibersauna).
Um auf den Punkt zu kommen, zur Parallele zu Kafka: im jeweils Einzelnen ist John Wick halbwegs realistisch, je mehr man aufs Gesamtbild blickt, desto absurder wird es. Dies gilt im Kleinen, für die Actionsequenzen: John erschießt, erschlägt, erwürgt, kastriert und köpft seine Feinde scharenweise – unglaubwürdig ist jedoch die Anzahl, die einzelnen Stunts bleiben einigermaßen plausibel, wenigstens im Vergleich mit ähnlich gelagerten Produktionen wie etwa Wanted oder auch Kill Bill (auch John kennt kein Erbarmen und allem Anschein nach auch keine Erschöpfung – aber er schießt nicht um Ecken oder reißt Leuten mit bloßen Händen Augäpfel heraus). Mehr noch jedoch gilt es im Großen: die Mafia avanciert im Lauf der Serie zunehmend zu einer Parallelwelt, in der pseudo-religiöse Rituale vollzogen und quasi-magische Münzen getauscht werden. Die Parallelwelt entpuppt sich ihrerseits als „wahre“ Welt jenseits der platonischen Höhle der Gesellschaft außerhalb der eingeweihten Mafia-Kreise – der Kaninchenbau wird umgestülpt. Gewissermaßen erwacht Keanu Reeves (der die Ehre hat, John Wick zu verkörpern) diesmal aus der Matrix, nur um dann festzustellen, dass Matrix und Wirklichkeit vor langer Zeit die Rollen gewechselt haben. Standen im Fokus des ersten Films noch ein paar New Yorker Drogen-Gangs mit einem drolligen Hotel, ballert sich John im weiteren Verlauf durch die Legionen eines Geheimbunds oder auch einer Sekte, der praktisch jeder angehören scheint, allemal jeder, der Rang und Namen hat.

Selbiges lässt sich z.B. über Kafkas Das Schloss und insbesondere Der Prozess feststellen. In letzterem wird der Protagnist K. angeklagt, (vermutlich) ohne ein (herkömmliches) Verbrechen begangen zu haben – von einem im ihm bislang unbekannten doch zunehmend allgegenwärtigen parallelen Justizwesen mit eigenen Regeln, Gerichten, Anwälten und so weiter. Aufgrund von Platzmangel werden von dessen Institutionen ungenutzte Räume in Wohnhäusern und Geschäftsbauten belegt, z.B. Dachböden, Abstellkammern und alte Keller. Wie sich nach und nach herausstellt, tagen in fast allen Gebäuden der Stadt, in welcher K. lebt, irgendwo versteckt die Schattengerichte, führen die Schreiber ihre Protokolle, stehen die Angeklagten seufzend Schlange – ungesehen doch für das Leben essentiell. In Das Schloss nimmt analog das scheinbar banale Setting eines von in einem Schloss auf einem nahen Berg regierten kleinen Dorfes zunehmend bizarre Züge an, wird das Zwischenmenschliche zum Labyrinth, verlieren sich die Verhältnismäßigkeiten in einem Strudel aus Details, deren Gesamtbild weniger prismatisch denn kaleidoskopisch jede (erkennbare) Logik zermalmt, zugleich jedoch niemals die Gnade erweist, sich einfach als blanker Quatsch herauszustellen. In beiden Fällen schwingt, sehr subtil, ein Hauch von negativem „Transhumanismus“ mit, von in die falsche Richtung laufender Evolution, von Degeneration. So wird am Rande angedeutet, dass die im Schloss tätigen Beamten kognitiv so umfassend von ihren bürokratischen Machenschaften in Anspruch genommen werden, dass ihr Intellekt ein spezielles Stadium erreicht hat, in dem sie nicht länger zur banalen Interaktion mit Dorfbewohner:innen fähig sind (ein wenig wie die Navigatoren der Raumgilde in Frank Herberts Dune). In Der Prozess zeigt sich, dass für die dauerhafte Tätigkeit in den stickig aufgeheizten Dachböden der ominösen Gerichte ein erweitertes Lungenvolumen nötig ist, dass sich nur langsam durch jahrelange Anpassung entwickeln lässt. Den angenommenen Selbstverständlichkeiten des Menschseins wird der Teppich unter den Füßen weggezogen.
Während Kafka seine vordergründig recht belanglosen Rahmenhandlungen (versehentlich wurde ein Landvermesser einbestellt, nun findet er keinen Job; der Prokurist eines kleinen Unternehmens hat juristischen Ärger am Hals) mit sich hochschaukelnden Komplexitäten und paradoxen Perspektivwechseln existenziell auflädt, bis sie zu Seziertischen für das Wesen von Mensch(heit) und Gesellschaft werden, macht John Wick auch diesen Schritt mit – natürlich weitaus weniger literarisch-abstrakt. Beispielsweise nutzen die Filme den Umstand des erst nachträglich ausformulierten Worldbuilding, um das Porträt einer Gesellschaft mit Regeln zu entwerfen, die auch kaum einem ihrer Mitglieder (anfangs) zur Gänze bekannt sind: wie der angeklagte K. kann man nur im Trüben stochern, auf Sicht fahren und hoffen, dass kein Fallstrick lauert; z.B. ist dem Manager des Continental-Hotels im vierten Film im Gegensatz zu John Wick (der dies lediglich für einen Mythos hält) bekannt, dass Angehörige des inneren Zirkels der Hohen Kammer doch tatsächlich das Recht haben, einander zum Duell zu fordern – ohne zu wissen, nach welchen Regeln diese genau ablaufen, was für ihn und John zu einer unangenehmen Überraschung führt.
Von Intersse sind in dieser Hinsicht auch z.B. die frewilligen Obdachlosen, die eher als willkührlich waltende Machthaberin zu agieren scheint, und, mehr noch, der alle Fäden in der Hand haltende Beduinenprinz. Die Machtverhältnisse, die ihn zum Herren über die Unterwelt und somit indirekt auch die Oberwelt machen, scheinen alt zu sein, sehr alt (so nennt man ihn treffend „den Ältesten“). Johns Treffen mit ihm endet mit dem surrealen Bild eines maßgeschneiderten Anzugs im traditionellen Wüsten-Zelt – gefolgt von einer Montage Panorama-Ansichten des nächtlichen New York; ein wenig erinnert das an Godfrey Reggios Koyaanisquatsi. Es entsteht der Eindruck, als hätte irgendwann in prähistorischer Vorzeit ein Nomadenstamm die anderen Stämme zum eigenen Vorteil überzeugt, sesshaft zu werden und Güter zu produzieren, die ihm zufließen, soweit benötigt – ohne selbst diese Lebensart (und den daraus resultierenden, im Lärm der Moderne kulminierenden Stress) anzunehmen. Endlose Überproduktion, um das Vorhandensein des wenigen, das man selbst tatsächlich benötigt, in jedem Fall sicherzustellen. Die gesamte Zivilisation als monströser Trickbetrug.

Hierin besteht eine deutliche Parallele zur populären Kulturkritik von Yuval Noah Harari, der beispielsweise in seinem Buch Sapiens die These aufstellt, dass Sesshaftwerdung und Landwirtschaft sich zwar Jahrtausende später ausgezahlt und eine im Vergleich zum Jäger-und-Sammler-Leben bequemere Lebensweise ermöglicht haben mögen, zunächst jedoch eine drastische Verschlechterung gegenüber diesem darstellten: plötzlich war man in ungekanntem Maß von Wetter, Ernten und Mitmenschen abhängig – doch aufgrund des einmal in Gang gesetzten Bevölkerungswachstums führte auch kein Weg zurück, da schlicht nicht genug Jagdgründe für alle mehr verfügbar waren.
Ähnlich existenziell ist die im Lauf der Reihe immer wieder (beispielsweise von der Richterin im dritten Film) getroffene Feststellung, Regeln seien das einzige, was Menschen von Tieren unterscheide. Dies lässt sich einerseits als pathetischer Gangster-Spruch im Sinne irgendeiner albernern Gauner-Ehre lesen, andererseits aber auch als anthropologische Beobachtung – analog zu Johan Huizingas Konzept des Homo Ludens, des Menschen als Tier, dem es gelingt, durch Spiele (und von Spielen abgeleitete Rituale) mit festen Regelwerken in großen Kollektiven zu organisieren.
Ein weiterer roter Faden der Reihe besteht in dem Motiv, dass die kollektive, kaum je hinterfragte Akzeptanz von Schulden und dem Wert von Geld – nicht unbedingt Alleinstellungsmerkmale doch definitiv Vorraussetzungen des Kapitalismus – etwas inhärent Religiöses zu eigen haben.

Im Anschneiden dieser zivilisatorischen Dimension knüpft John Wick 3 an Fäden an, die bis zum ersten Teil zurückreichen. Schon dessen Resümee ist letztlich Epikureismus (sprich_ asketischer Hedonismus): John Wick will mit all dem verschossenen Blei nicht viel erreichen, er möchte nicht die Mafia übernehmen oder abschaffen, sondern bloß seine Ruhe, sein Haus, sein Auto und seinen Hund (und Zeit für seine Trauer bzw. sein Selbstmitleid). Und dafür, nur dafür, ist er bereit, sich mit der Gesamtgesellschaft anzulegen, diese zu verändern. Das ist materialistisch, durch und durch – aber mit Maß und Ziel, Hand und Fuß, mit Messer, Pistole und Sturmgewehr.
Die späteren Filme mauern letztlich bloß weiter auf diesem Fundament, übertragen das Konzept aufs kollektive Ganze. Wenn das Individuum so-und-so-viel braucht, um glücklich zu sein: wie viel Karriere (Film Nr. 1), Wirtschaftswachstum (Film Nr. 2), Wirtschaft als solche (Film Nr. 3) und Tote (in Teil 4 resümierend stärker hinterfragt als in den Vorgängern) sind dann tatsächlich gerechtfertigt? Wie viel muss sein, was ist genug, wann hört man besser wieder auf? Die Filme sind viel zu minimalistisch gestrickt, um darauf ausformulierte Antworten zu entwerfen – aber sie stellen interessante Fragen. Das mag nicht Adorno sein und erreicht offensichtlich nicht ansatzweise die bodenlose Tiefe von Kafka – schafft es jedoch, die selbe Grundsubstanz in radikaler Verdünnung (keine Potenzierung, soweit wollen wir nicht gehen!) auch einem von geisteswissenschaftlichem Gewaber verschont gebliebenen Publikum schmackhaft zu servieren.
Exkurs: Zivilisationsmüdigkeit v.s. Dekadenz
Interessant ist vor dem Hintergrund des aktuellen Zeitgeists, dass John Wick die Zivilisation zwar infrage stellt, jedoch nie gänzlich ablehnt: es geht eher um deren Form und Ausmaß als darum, sie abzulegen, abzuschaffen. Ja, John will seine Ruhe – aber eben in seinem Haus, mit seinem Auto, dem Foto seiner Frau auf dem Nachttisch. Er möchte weder komplett aus der korrupten Gesellschaft aussteigen, um als Jäger und Sammler im Urwald zu leben oder sich als Kleinbauer durchzuschlagen und von der Hängematte aus den Mais gießen (mehrfach schließt er explizit die Möglichkeit aus, gänzlich unterzutauchen und sich irgendwo am Ende der Welt vor der Hohen Kammer zu verkriechen). Ob das konkrete Maß das richtige ist, soll an dieser Stelle nun wirklich nicht diskutiert werden (es ließe sich argumentieren, dass John mit seiner bedrohten Häuslichkeit etwa den Anspruch aufs Einfamilienhaus verteidigt – suchen Sie sich Ihren Standpunkt dazu bitte anderswo!). Spannender ist, dass die Film-Reihe trotz ähnlicher Grundansätze eine völlig andere Richtung einschlägt wie etwa A Quiet Place, The Last of Us oder (wenngleich deutlich differenzierter) auch z.B. Snowpiercer – Filme und Serien, die von der Faszination für den Zusammenbruch der Gesellschaft leben, in dessen Folge das Leben zwar viel gefährlicher aber auch nachvollziehbarer und damit scheinbar bedeutsamer wird – i.d.R., da man sich nicht mehr um die komplexen, nun kollabierten sozialen Gefüge sorgen muss, sondern lediglich um die einem nahestehenden Menschen, z.B. die eigene Familie. Dies mag in einer Zeit künstlicher Intelligenzen, global verknoteter sozio-ökonomischer Kausalitäten, des sich verändernden Weltklimas u.s.w. besonders verlockend erscheinen – ist aber natürlich keineswegs neu.
Schon Kafka hat sich seinerzeit intensiv mit Gegenkultur und Reformbewegungen beschäftigt, fühlte sich von der Suche nach alternativen Lebensweisen zugleich fasziniert und abgestoßen. So hat er sich etwa mit Anthroposophie, Gymnastik, Nudismus, Veganismus etc. beschäftigt und sich (schon vor seiner letztlich tödlichen Tuberkulose-Erkrankung) in Sanatorien herumgetrieben, ihrerzeit Zentren des Reformgeistes. Wie erwähnt schwingt auch in seinen Erzählungen drastische Skepsis gegenüber der Zivilisation als Gesamtphänomen mit – ohne derweil je eine bestimmte andere Lebensweise als verlässlicherweise erstrebenswert zu präsentieren (und sei es, wie John Wick melancholisch mit dem Hund spazieren zu gehen und Donuts mit dem Rennauto zu drehen).
Wo Kafkas Verhältnis zum Dasein als gesellschaftliches Wesen ambivalent bleibt, sind Endzeit-Geschichten wie eben z.B. The Last of Us einerseits von Nostalgie für die Gegenwart geprägt (wie Typen wie Walter Benjamin und Slavoj Žižek dem Genre gern bescheinigen), andererseits und oft vorrangig scheint ihr Erfolg jedoch von einer tiefen Zivilisationsmüdigkeit seitens des Publikums befeuert zu werden. Als deren Gegenentwurf widerum lässt sich das Konzept der Dekadenz ausmachen: das Beführworten von und Festhalten an Zivilisation trotz und/oder gerade wegen ihrer Fehler und Schattenseiten.

Diese Geisteshaltung findest sich, offensichtlich, in der sogenannten Dekadenz-Literatur des 19. und frühe 20. Jahrhunderts, mit archetypischen Werken wie Joris-Karl Huysmans‘ Gegen den Strich oder Thomas Manns Der Zauberberg (welcher, in einem Sanatorium spielend, zugleich die Reformbewegungen seiner Epoche aufgreift und sie als bloße Auswüchse der Gesellschaft demaskiert – nicht einen Ausweg aus derselben). Obgleich beiden Erzählungen Entfremdung von und Widerwille gegen das herkömmlich ziviliserte Leben in ihrem Wesenskern zu eigen sind (Der Zauberberg läuft pointenhaft gar auf den Ersten Weltkrieg hinaus, bei Erscheinen des Werks kaum zehn Jahre nach jenem wohl mindestens in der kollektiven Empfindung das bis dato drastischste Scheitern des Zivilisationsprojekts), zeichnen sie sich letztlich dadurch aus, dieses – wenngleich eventuell in abgewandelter, verquerer Form – zu beführworten.
Selbstredend findet sich das Dekadenz-Motiv auch in der späteren Popkultur, oft deutlich weniger enthusiastisch behandelt. Ein willkürliches doch typisches Beispiel wäre Mel Gibsons Film Apokalypto: angesiedelt in Guatemala vor Ankunft der Europäer:innen handelt der Film von einem Stamm im Wald lebender Maya. In rosseauscher Naivität existieren sie vor sich hin, gehen darin auf, einander unschuldige Späße zu spielen und fleißig fürs Gemeinwohl Tapire zu jagen (oder im Fall der Frauen, die gemeuchelten Tapire zu kochen und Kinder zu gebähren) – worin trotz katholischem Regisseur definitiv eine Prise prothestantischer Arbeitsethik mitklingt. Eines schönen Tages werden sie alle von anderen, in Städten lebenden Maya entführt, die sie als Sklav:innen und Blutopfer missbrauchen. Die Stadtbewohner werden als fundamental dekadent gezeichnet, was sich in diesem Fall in fatalistischer Todessehnsucht äußert – für die der Film allemal einprägsame Bilder findet; alle scheinen zu spühren, dass das Enda naht – zugleich ist man davon scheinbar begeistert, unternimmt nicht einmal den Versuch, herauszufinden, ob selbiges sich irgendwie abwenden ließe. Die spannendste Figur des Films ist der Anführer des Sklavenjäger-Trupps (ein Kerl namens „Leitwolf“), seines Zeichens hammerharter Soldat, selbst nicht kulturgeschädigt, vielmehr ein besonders fleißiges Bienchen – dessen Vermögen es jedoch übersteigt, den Zerfall der Gesellschaft, in deren Dienst er steht, zu durchschauen oder zu verhindern. Am Ende landen jedenfalls die Spanier an der Küste und verbreiten kreuzeschwingend das Christentum – verglichen mit dem idealisierten Jäger-Sammler-Dasein der Protagonist:innen seinerseits eine Form der Dekadenz. Die überlebenden Wald-Maya scheinen jedenfalls gegen die Zerstörung der verkommenen Stadt-Kulturen durchaus nichts einzuwenden zu haben, verschwinden selbst aber einstweilen doch lieber wieder im Gehölz, statt sich auf Anhieb missionieren zu lassen. Auch in anderen Mel-Gibson-Filmen, etwa The Patriot wird negativ dargestellte Dekadenz mit dem alten Europa assoziiert, um den als Gegenentwurf in Szene gerückten American Way of Life an den Mann zu bringen. Wenn man so möchte die Vorstufe zu Endzeit-Phantasien wie The Lastof Us: in denen nicht nur Europa hinter sich gelassen wird, sondern die gesamte Zivilisation einschließlich der (momentanen) USA.

Ein den Blick wertes Beispiel sind demgegenüber The Hunger Games und Sequels: im Wesentlichen spielen diese in einem typischen Endzeit-Setting. Die Erde ist verwüstet, zerbombt, eventuell nuklear verstrahlt – die genaue Katastrophe bleibt der Phantasie überlassen. Es leben nicht mehr viele Menschen – eine Stadt, zwölf Dörfer und ein Bunker, mehr ist nicht übrig – im Grunde könnte man sich zerstreuen und zum Jäger-und-Sammler-Leben zurückkehren wie die Wald-Maya. Effektiv ist eben dies auch erklärtes Ziel der Protagonist:in und ihres zeitweiligen Angebeteten Gale: gleichwohl geschieht dergleichen letztlich nicht, weder individuell noch im Kollektiv kommt man vom Echo der Gesellschaft los. Versuche, die Zivilisation zu überwinden oder ihre Form zu ändern, scheitern kolossal. Derweil sind die Bewohner der Hauptstadt plakativ dekadent, geben ihren Kindern römische Namen und futtern Trauben, während die armen Schlucker der Dörfer hungern. Im zweiten Film gibt es mit der Figur des Romulus Thread (gespielt von Patrick St. Esprit) sogar eine beinahe identische Figur zu Mel Gibsons Leitwolf, welche die Tragik der Sache auf den Punkt bringt: selbst (oder erst recht…) als aufrechter konservativer Moralhüter kommt man gegen Kulturverfall nicht an. Spannend ist, dass die komplett konträre spartanische Lebensart der Rebellen im Bunker seinerseits als Dekadenz entlarvt wird – die Leute suhlen sich in ihrer Entbehrung, sind eher daran interessiert, ihre Ressentiments zu pflegen, als die Zustände zu verbessern. Noch spannender ist, dass als Fundament dieser Zivilisation Spiele ausgemacht werden, zunächst in Form blutrünstiger Gladiatoren-Kämpfe mit minderjährigen Proband:innen, später indem Krieg gespielt und medial ausgeschlachtet wird; letztlich jedoch gelingt es der Protagonistin, der Gewaltspirale zu entkommen und sich in ein kleinbürgerliches Familienleben zu flüchten: dessen Idyll angesichts der endzeitlichen Gesamtsituation zwar teilweise als Illusion begriffen, von der Protagonistin jedoch seinerseits proaktiv als Spiel betrachtet und dadurch in seiner Illusionarität akzeptiert, ertragen und sogar zelebriert wird. Vor der Hintergrund der defizitären doch unentrinnbaren Zivilisation werden nacheinander verschiedene Ausprägungen der Dekadenz erprobt und gegeneinander abgewogen. Gewissermaßen die Popcorn-Version des Zauberbergs, analog zu John Wick als „Kafka mit Knarren“ – der Ansatz, das bürgerliche Leben mit all seinen Marotten als eine Art Spiel zu begreifen und dadurch erträglich zu machen, findet sich expliziter noch in Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in dem z.B. ein abseits der Bühne recht jämmerlicher Schauspieler mit einem Glühwürmchen verglichen wird: dessen wahres Wesen in der durchaus illusionären Romantik des Lichtleins in dunkler Nacht verortet wird, nicht in dem bei näherer Betrachtung unschönen Insekt auf Paarungsflug.
Abschluss: Ende und Neustart der Geschichte
Keine Sorge, wir kommen sogleich auf John Wick zurück. In diesem Sinne eine letzte Ab- und Ausschweifung: Quentin Tarantinos Kill Bill. Die Handlung dreht sich um den Mafia-Killer (!) Bill, der sich im Lauf seines Lebens eine eigene selbstreflexive Phantasie-Welt ausgedacht hat: manifestiert in seiner Killer-Truppe „Deadly Viper Assassination Squad“, bestehend aus ein paar hübschen Frauen, mit denen er zudem schläft, und seinem Bruder Budd, die alle alberne Decknamen tragen und mit Samurai-Schwertern hantieren – und für die Bill als Kung-Fu-Lehrer und eine Art weltlicher Guru fungiert. Als eine der Frauen, die Protagonistin des Films, aussteigen möchte, versucht Bill, sie mithilfe der übrigen Gang umzubringen, sie fällt jedoch nur ins Koma, erwacht ein paar Jahre später und bringt daraufhin postwendend die anderen um. Im Dekadenz-Kontext von Interesse ist, dass es sich bei dem Deadly Viper Assassination Squad offensichtlich um ein übles Spiel und obendrein eine fragwürdige Sex-Phantasie von Bill handelt, was auch sämtlichen Charakteren klar ist – die nach dessen Aufkösung gleichwohl in Nostalgie versinken. Dies gilt auch für die Protagonistin; derweil leisten die anderen zwar kräftig Widerstand gegen deren Bestrebungen, sie unter die Erde zu befördern, scheinen sich in verquerer Todessehnsucht jedoch gleichzeitig darüber zu freuen, wenn ihr dies gelingt.
Hierbei ist zu bedenken, wann Kill Bill erschienen ist: anfang des Jahrtausends, 2003 (bzw. 2004 im Fall des zweiten Teils), somit im vollen Geist des 1989 von Francis Fukuyama ausgerufenen „Endes der Geschichte“, also der Annahme, das sich die liberale Demokratie (und ihr folgend ein gewisser Wohlstand) nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion allmählich weltweit ausbreiten und als dauerhafter Endzustand etablieren wird. Vor diesem Hintergrund erscheint die Schicksalsergebenheit der Figuren von Kill Bill in einem bestimmten Licht: alle möchten noch schnell sterben, bevor das Paradies beginnt. Rückblickend scheint auch ihr individuelle Reichtum deutlich weniger erfüllend als der risikoreiche Weg dorthin (programmatisch klingt in Budds Wohnwagen Johnny Cashs A Satisfied Mind aus dem Plattenspieler: „One rich man in ten / With a satisfied mind“). Immer wieder geht es um Gefühl der Reue nach dem finalen Sieg über lang bekämpfte Feinde. Obgleich Kill Bill wie bei Tarantino üblich darauf setzt, mithilfe Brecht’scher Verfremdung in sich ambivalente Geschehnisse zu erzählen, um Zuschauer:innen somit gleichzeitig zur Interpretation des Gezeigten einzuladen und Raum für deren eigene Deutungen zu lassen, lehnt man sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, indem man feststellt, dass damit (auch) die scheiternde Identitätssuche der USA infolge des weggefallenen Feindbilds der UdSSR thematisiert (und zugleich mit der zuvor in den 1960ern gescheiterten Identitätssuche der Hippie-Bewegung vermittels der Adaption asiatischer bzw. pseudo-asiatischer Kultur verknüpft) wird. So elend er auch war – im Kalten Krieg wusst man allemal, worum es ging. Abermals bietet sich der schon hier angestellte Vergleich von Fukuyamas Optimismus mit dem Pessimismus von Dostojevskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch an: dessen Kernthese darin besteht, dass Menschen ab einem gewissen Punkt lieber den zivilisatorischen Fortschritt boykottieren als in einer bequemen und darum nicht länger durch das fortwährende Überwinden von Problemen sinnstiftende Welt zu leben.

Ganz wie ein paar Jahre später in The Hunger Games wird das Dilemma – allemal für die Protagonistin selbst – dadurch gelöst, dass eine im Vergleich mit Kriegen, Auftragsmorden und Kung-Fu verglichen banale bürgerliche Existenz als eine Art Rollenspiel begriffen wird. Bill selbst entwirft diese Perspektive vor seinem Hinscheiden für sie, indem er sie mit Superman vergleicht: welcher im Gegensatz zu anderen Superhelden wie Spider- oder Batman nicht ein Kostüm anzieht, um zum Helden zu werden, sondern, im Gegenteil, um seine Helden-Natur zu verschleiern. Dostojewskis existenzielles Grauen davor, mit einer zu hoch entwickelten Zivilisation gottgleiche Macht zu erlangen und der Verantwortung, in die Rolle Gottes zu schlüpfen, als allzu unvollkommene Menschheit nicht gerecht werden zu können, wird mit der Idee gekontert, dass gottgleiches Potenzial auch die Freiheit beinhaltet, diese nicht zu nutzen und lieber Mensch zu spielen. Dem haftet eine Prise nach Science-Fiction schmeckendem Optimismus an – wir wollen nicht daran vergessen, dass Tarantino sich gern als bekennender Star Trek-Fan inszeniert, während es Dostojewksi eher um eine Rückkehr zu religiöser Tradition nach alter Schule bestellt war. Übrigens lässt Tarantinos Superman-Metapher sich derweil auch als mögliche philosophische Figur jenseits von Nietzsche und seinem (ggf. eher als Frage nach dessen möglicher Ausformulierung deutbarem) „Übermenschen“ verstehen – man „überwindet“ die Allzumenschlichkeit nicht, indem man sich im Sinne debiler Arier-Phantasien über sie erhebt, sondern indem man sich voll und ganz darauf einlässt; Erhabenheit durch die radikale Verweigerung, nach Erhabenheit zu streben (womit Tarantinos optimistischer „Meta-Nietzscheanismus“ gewissermaßen das Gegenstück zum Pessimismus von Michel Houellebecqs in seiner Ausweitung der Kampfzone ausgerufenen Post-Existenzialismus bildet – aber das soll uns an dieser Stelle nicht beunruhigen; irgendwie ging es ja um John Wick?).
Zusammenfassend besteht die Essenz von Kill Bill (jedenfalls im hier besprochenen Zusammenhang) darin, dass eine Epoche der Gewalt überwunden und die Nostalgie für selbige (gewaltsam) ausgetrieben wird. Umgekehrt handelt John Wick davon, dass dies bereits erfolgt ist (John ist bereits erfolgreich aus dem Killer-Dasein ausgestiegen und hat darin Ersatz gefunden, die Rolle des trauernden Witwers zu spielen) – zentraler Konflikt des Films ist, dass die Gewalt ungebeten zurückkehrt und dass man versucht, zum einmal gewonnenen und auch tapfer ertragenen Frieden zurückzufinden. Bereits der erste Film (2014) ist somit retrospektiv vor dem Hintergrund der Finanzkrise zu sehen, mit der sich allemal andeutete, dass es mit der Geschichte womöglich doch noch nicht ganz vorrüber ist – als Entsprechung zu Kill Bill gelesen (erlesen choreografiertes Gemetzel als Rahmen für unterschwellige Erwägungen über Zweck und Ziel von Zivilisation) lässt sich die weitere Reihe als immer drastischeres Bekenntnis zum zivilisierten Leben im Angesicht der sich häufenden Krisen (Klimawandel, Corona, nun auch wieder Krieg…) verstehen.
Falls Sie noch immer unschlüssig sein sollten: für John Wick: Chapter 4 Ihr Kellerloch zu verlassen, löst sicher nicht alle Probleme – aber es gibt nun wahrlich schlimmere Spiele.
Robert Boehm, Leipzig, 04.04.2023. Letzte Revision am 04.04.2023.
Bildquellen: Pixabay.com, Wikimedia Commons
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