Nein, es geht hier nicht um Erdogan. Ich bitte Sie. Vielmehr geht es um eine simple Aufgabe aus dem Reich der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die gern zur Hand genommen wird, um zu veranschaulichen, dass Wahrheit oft konterintuitiv ist bzw. dass der menschliche Verstand zu Trugschlüssen neigt. Interessant daran ist, dass die fragliche Beweisführung zugleich damit konfrontiert, was Mathematik eigentlich ist. Und zwar ist sie in gewisser Hinsicht – ja, das hier ist immer noch ein Blog über Medientheorie – ein Narrativ. Eine Geschichte. Wie Rotkäppchen, Kill Bill und der Islam.

Trivia. Vater des Ziegenproblems ist der Biostatistiker Steve Selvin, der die Aufgabe 1975 in einem Leserbrief in der Zeitschrift American Statistician vorstellte. Aufsehen erregte die Thematik erst 15 Jahre später, als die Kolumnistin Marilyn vos Savant eine Version davon im Magazin Parade aufgriff. Innerhalb weniger Tage erhielt sie Tausende Briefe, darunter wüste Beschimpfungen. Laut einer genauen Zählung weigerten sich 92% der mathematischen Laien, Savants Lösung anzuerkennen – ebenso wie 65% der briefschreibenden Akademiker. Obwohl die Debatte unter Eingefleischten bis heute andauert, liegen inzwischen zahlreiche Beweise vor: Savants Lösung ist (hoffentlich – siehe unten!) richtig. Also, was ist mit den Ziegen?
Aufhänger des Ziegenproblems ist eine mehr oder weniger fiktive Game-Show. Teilnehmer:innen müssen zwischen drei Türen wählen: hinter einer der Türen befindet sich ein Auto, hinter den beiden anderen je eine angepflockte Ziege (Es wird angenommen, dass die Teilnehmer:innen lieber das Auto haben möchten als die Ziegen). Alle drei Türen sehen völlig identisch aus, es gibt keine ersichtlichen Hinweise darauf, wo Auto und wo Ziegen sind. Man muss also raten und willkürlich eine Tür aussuchen. Anschließend öffnet der Moderator eine der beiden Türen, die man nicht ausgewählt hat und hinter der sich eine Ziege befindet. Er öffnet immer eine Tür mit Ziege, niemals die mit dem Auto. Es kann also sein, dass man selbst bereits die Tür mit dem Auto ausgewählt hat und dass hinter der verbliebenen Tür die zweite Ziege lauert oder aber, dass man die Tür mit der übriggebliebenen Ziege gewählt hat. Es folgt nun eine zweite Spielrunde, in der man entscheiden darf, ob man bei der gewählten Tür bleibt oder stattdessen die andere noch geschlossene Tür wählt. Unabhängig von der Entscheidung öffnet der Moderator nun beide Türen: war die in der zweiten Runde gewählte bzw. beibehaltene Tür die mit dem Auto, darf man damit nach Hause fahren. Ob man auch die Ziege(n) behalten darf, ist für den mathematischen Teil unerheblich.

Was daran ist nun problematisch? Sodann: die Wahrscheinlichkeit, in der ersten Runde die richtige Tür zu wählen, beträgt 1/3 (man wählt eine von drei Türen). Behält man die Entscheidung bei und verzichtet darauf, in Runde Zwei die Tür zu wechseln, beträgt die Wahrscheinlichkeit, richtig zu liegen, immer noch 1/3. Entscheidet man sich jedoch in der zweiten Runde für die jeweils andere Tür, beträgt die Wahrscheinlichkeit 2/3 (sprich: zu 2/3 hat man in der ersten Runde eine Tür mit Ziege gewählt und folglich ist man gut beraten, sich anders zu entscheiden). Entsprechend gewinnt man 33,33…% wahrscheinlicher das Auto, wenn man zwischendrin die Tür wechselt – obwohl man keinerlei neue Hinweise zu den noch verschlossenen Türen bekommt. Wenn Sie möchten, zeichnen Sie einen Wahrscheinlichkeitsbaum – oder googeln Sie selbst, oder glauben Sie’s: wenn Sie in Runde Zwei die Tür wechseln, steigt Ihre Chance, das Spiel zu gewinnen.

So ein Blödsinn! Ein Paradebeispiel, dass Mathe nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat und man den Kindern in der Schule lieber beibringen sollte, Nägel in ein Brett zu schlagen, im Leben glücklich zu werden oder mit Aktienoptionen Geld zu verdienen! Nicht wahr? Nö.
Wesentlicher Irrtum der meisten Stehgreif-Stochastiker ist, dass Wahrscheinlichkeiten sich erst langsam bemerkbar machen, je öfter die fraglichen Versuche durchgeführt werden (Gesetz der großen Zahlen). Sie können auf eine Sache wetten, die zu 97% eintritt, und trotzdem Pech haben. Sogar bei 99,99%. Manchmal kommt beim Roulette die Null. Fortuna ist grausam. Die höhere Wahrscheinlichkeit, dass Auto zu ergattern, macht sich erst evident bemerkbar, wenn Sie sehr, sehr, sehr oft an der bescheuerten Show teilnehmen. Tatsache: im Rahmen der erbitterten Schlachten, die um das Ziegenproblem geführt wurden, haben Menschen wiederholt die Muße gefunden, das Ganze unter aussagekräftigen Bedingungen zu simulieren – und siehe da, Savant hat recht. Die Frage ist somit nicht, ob Stochastik in diesem Fall weiterhilft, sondern vielmehr, warum sie es tut.

Wenn man diese Frage eindeutig beantworten könnte, wäre es jedoch nicht nötig, Stochastik anzuwenden. Sprich: wenn sich ermitteln ließe, welcher Umstand dafür sorgt, dass man öfter gewinnt, wenn man sich in Runde Zwei umentscheidet, wüsste man, worauf man achten müsste – statt nur indirekt logisch ermitteln zu können, wie man sich verhalten muss, um diesen Umstand auszunutzen. Ebenso, wie man einen Grund hat, in heißen Regionen nur unter Vorbehalt Schweinefleisch zu verspeisen, sobald man weiß, dass dieses bei hohen Temperaturen schneller verdirbt, da Mikroorganismen sich enthusiastischer vermehren – auch ohne ein religiöses Speisegebot, das den Verzehr zusätzlich untersagt (während es umgekehrt kein Beweis gegen die allgemeine Wahrheit eines wie auch immer gearteten Glaubens ist, wenn sich dessen pragmatische Grundlage destillieren lässt: ob Gott existiert oder nicht, er hätte ja allen Grund, seine Anhänger in Wüsten vom Ferkel-Vertilgen abzuhalten). So, wie es für Kleinkinder besser ist, nicht allein in den Wald zu laufen, auch, wenn dort kein böser Wolf im Großmuttergewand umgehen sollte.
Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitslehre sind gesammeltes Erfahrungswissen (oder von bestehendem Wissen abgeleitete Schlussfolgerungen) darüber, wie die Realität in ihrer unfassbaren Komplexität sich auf konkrete Vorgänge auswirkt. Bezogen auf das Ziegenproblem funktioniert die Stochastik, weil die Verteilung von Auto und Ziegen auf die Türen nicht wirklich zufällig erfolgt – ebenso wenig wie die eigene Entscheidung für eine der drei Türen in der ersten Runde. Wenn der Moderator vor der Show aus dem Bauch heraus entscheidet „Heute stellen wir die Karre mal hinter Tür Nr. 3!“, beeinflussen ihn unzählige Faktoren. Das Gleiche gilt dafür, welche der beiden Ziegentüren er vor Runde Zwei öffnet (sofern man als Teilnehmer:in gerade die Tür mit dem Auto gewählt hat). Wie steht es um seinen Blutdruck? Was hat er gegessen? Ist er gerade erkältet? Hat er das letzte Mal bereits Tür Nr. 2 gewählt? Was herrscht für Wetter – mag er dieses Wetter und warum mag er es oder mag es nicht? Und so weiter. Und so fort. Selbiges gilt für die erste Entscheidung der Teilnehmer:innen für eine der drei Türen.

Wenn Sie sich in der zweiten Runde jedes Mal umentscheiden, nutzen Sie damit unbekannte Faktoren aus. Vielleicht wählt der Moderator bei barometrischem Tiefdruck ein wenig häufiger die mittlere Tür, um das Auto dahinter zu verstecken (z.B. weil er sich unbewusst nach einem Ausgleich für seine migränebedingten Schwindelanfälle sehnt), während Teilnehmer:innen dann unbewusst eher dazu neigen, in Runde 1 eine der äußeren Türen zu wählen (weil diese näher am Ausgang des Studios liegen und sie sich instinktiv danach sehnen, bei dem Sauwetter zuhause im Trockenen zu sitzen statt an einer dämlichen Game-Show teilzunehmen). Womöglich beeinflusst der von Vornherein getroffene Entschluss, sich in Runde Zwei umzuentscheiden, die Mikroexpressionen Ihres Gesichts während sie zu Beginn eine der drei Türen wählen, was der Moderator unbewusst bemerkt und darum ebenfalls unbewusst eine Grimasse schneidet, wenn Sie sagen „Hmmmm, soll ich Tür Nr. 1 nehmen?“ während hinter Tür Nr. 1 das Auto steht, weil er Ihnen instinktiv das Auto gönnt, welches Ihnen entginge, wenn Sie nun Tür Nr. 1 und dann die in Runde Zwei von ihm übrig gelassene Ziegentür wählen – was wiederum Sie vielleicht unbewusst zur Kenntnis nehmen und darum entscheiden: „Ooooch, ich denke … ich nehme lieber erstmal Tür Nr. 2!“ (woraufhin der Moderator dann notgedrungen den Paarhufer hinter Tür Nr. 3 enthüllt und Sie sich anschließend wie geplant für die anfangs nicht gewählte Tür Nr. 1 entscheiden). Eventuell haben auch sowohl Sie als auch der Moderator schon von Savants Rechenbeispiel gehört und wenn Sie vor Runde eins laut überlegen, eine Tür mit Ziege zu wählen, schneidet der Moderator resignierte Grimassen, da er befürchtet, seine Show könnte abgesetzt werden, wenn sich die Sache rumspricht. Oder womöglich beeinflusst der Gesinnungswechsel bezüglich der Tür auch etwas vollkommen anderes. Oder ganz verschiedene Dinge. Durchs Umentscheiden bringen Sie ein Muster ins Chaos: bzw. Sie nutzen jene Muster aus, die implizit vorhanden sind – und irgendwelche sind immer vorhanden. Sie drehen das Steuerrad in eine bestimmte Richtung und halten es beharrlich fest – was in diesem Fall die bessere Entscheidung ist, als sich einfach gänzlich mit den unbekannten Strömungen treiben zu lassen oder mal hierhin und mal dorthin zu lenken.
„Die Wahrscheinlichkeitstheorie untersucht die Gesetze zufälliger Ereignisse. Zum Beispiel wird berechnet, wie wahrscheinlich das Eintreten eines zufälligen Ereignisses ist.“
Deutsche Mathematiker-Vereinigung
Die Formulierung „Die Gesetze zufälliger Ereignisse…“ ist je nach Betrachtungsweise mies gewählt – oder recht hintersinnig. Wären die Ereignisse wirklich zufällig, gäbe es keine Gesetze. Wenn es untersuchbare Gesetze gibt, sind sie nicht wirklich zufällig. Oder besser: es gibt überhaupt keinen Zufall. Bloß Kausalität: in einem endlos komplexen Gefüge von Zusammenhängen. Etwas eindeutiger wird dies bei digitalen Simulationen des Ziegenproblems. Man kann keinen echten Zufallsalgorithmus schreiben. Stattdessen benutzt die Informatik Tricks: z.B., in dem Moment, in dem ein Zufallswert abgefragt wird, die so-und-so-vielte Nachkommastelle der Systemzeit auszulesen (13 Stunden, vier Minuten, 12 Sekunden, 5 Zehntel-Sekunden, 2 Hundertstel-Sekunden usw.) und den Zufallswert davon abhängig zu machen (Bei einer 50% Entscheidung z.B.: ist die ausgelesene Zahl gerade oder ungerade?). Wird nun ein Programm geschrieben, dass tausendfach „zufällig“ eine von drei Optionen als die jeweils richtige deklariert, dann „zufällig“ eine der drei Optionen auswählt, dann „zufällig“ eine der nicht ausgewählten für nichtig erklärt und dann in einer von zwei ansonsten identischen Versuchsreihen die ausgewählte Option beibehält und in einer zweiten Vergleichsreihe wechselt, so erzielt das Programm in der zweiten Reihe mehr Treffer. Menschen haben entsprechende Simulationen durchgeführt. Die Stochastik hat Recht behalten. Und zwar, weil die simulierten „Zufälle“ eben nicht „zufällig“ waren.
„Das Wort Stochastik kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Kunst des Vermutens“ oder „Ratekunst“.“
Deutsche Mathematiker-Vereinigung
Stochastik als „Ratekunst“: in letzter Konsequenz das gleiche Prinzip wie z.B. asiatische Philosophie als „Lebenskunst“. Wenn Laotse im Daodejing behauptet: „Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.“, betreibt er damit schwammige Stochastik. Er paraphrasiert damit beispielsweise: „Herausforderungen so zu wählen, dass sie mit den eigenen Mitteln und Fähigkeiten gerade so schaffbar zu sein scheinen, senkt die Wahrscheinlichkeit, die gewählten Herausforderungen tatsächlich zu bewältigen“. Das kann man schlau und richtig finden oder auch nicht. Der Punkt ist, dass auch Laotse hier eine abstrakte Formel bzw. Strategie bietet, um durch das Treffen von Entscheidungen (nach seiner Definition) wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen. Laotses kryptische Weisheiten sind keine akkuraten Feststellungen über konkrete Sachverhalte, sondern Metaphern als Entscheidungshilfen. Einige Denker wie Carl Gustav Jung, Joseph Campbell oder der konservative Internet-Guru Jordan Peterson proklamieren, dass sämtliche Mythologien und Religionen auf diese Weise zu lesen seien. Als wäre z.B. die katholische Lehre von Sünden und Vergebung direkt vergleichbar mit Platons weniger spiritueller Idee, man solle so leben ALS OB man nach dem Tod entweder in eine Hölle oder in ein Paradies kommt, abhängig davon, ob man mehr (nach Platons Vorstellung) Gutes oder Schlechtes angestellt hat. Doch halt. Stochastik – und im weiteren Sinne die Mathematik insgesamt – als Metapher: als Mythos?

Ja und nein. Mathematische Gesetze sind keine inhärenten Eigenschaften der Realität: sondern Kohärenzen in deren Beobachtung bzw. Erleben durch Menschen. In der Natur gibt es keine Zwei und kein Integral. Es gibt auch keine zwei Äpfel (von denen man einen essen kann) bzw. gibt sie nicht mit Sicherheit. Es gibt subjektive Sinneseindrücke, die man als Äpfel interpretiert.
„Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein »Ding«).“
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches
Das gilt für verschiedene Aspekte der Mathematik in unterschiedlichem Maße: manche Teile sind logisch herleit- und beweisbar. Andere nicht. Wie in jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin auch arbeitet man mit Axiomen – Grundsätzen, die innerhalb dieses Systems weder begründet noch deduktiv abgeleitet, sondern als Grundlage willentlich akzeptiert oder gesetzt werden. Gewissermaßen sind Axiome der empirische Aspekt der Mathematik. Wie auch Physik, Chemie und Meeresbiologie ist die Mathematik (inklusive Stochastik) eine Sammlung von Beobachtungen, die so oft beobachtet wurden, dass sie vorläufig wie feste Tatsachen bzw. Regeln behandelt werden.
Diese generelle Vorläufigkeit jeder Erkenntnis ist übrigens, was Wissenschaftlichkeit ausmacht: den „Glauben an die Wissenschaft“ zu verlieren, weil Wissenschaftler (z.B. Virologen…) ihre Meinungen auf Basis neuerer Beobachtungen ändern, ist knetendämlich. Wissenschaftliche Theorie anzuerkennen bedeutet nicht, irgendjemandem zu glauben, sondern zähneknirschend zu akzeptieren, dass es (noch) niemandem gelungen ist, sie zu widerlegen. Wissenschaft ist kompromissloser Zweifel. Aber gilt auch das für Mathe?

Absolut. So hat Kurt Gödel einerseits mathematisch bewiesen, dass niemals alle wahren Sätze der Mathematik mathematisch bewiesen werden können (Hier findet man ein niedliches Arte-Video zur Thematik). Wenigstens manche Axiome müssen also schlicht akzeptiert werden, bis sie widerlegt werden (was darum umgekehrt aber nicht zwangsläufig möglich ist). Andererseits könnte potentiell durchaus möglich sein, dass in einem von so-und-so-vielen Fällen oder unter bestimmten noch unbekannten Umständen zwei plus zwei nicht vier ergibt. Dass Fritzchen irgendwann, irgendwo zehn Tafeln Schokolade hat, neun davon isst und dann trotzdem noch vier übrighat. Gewiss, das wäre recht beunruhigend. H.P. Lovecraft beschreibt eben darum in vielen seiner Horror-Storys, wie Menschen in außerirdischen Umgebungen mit Phänomenen wie nichteuklidischer Geometrie konfrontiert und eben darum irre werden. Nichteuklidische Geometrie bedeutet, dass das Parallelaxiom außer Kraft gesetzt ist (welches vereinfacht ausgedrückt besagt, dass parallele Linien, rechte Winkel, etc. so funktionieren, wie man es von ihnen erwartet). Nichteuklidische Geometrie begann als theoretische Disziplin (Was-wäre-wenn-Gedankenspiele im Rahmen komplexer Beweisführung), bis die allgemeine Relativitätstheorie in Umlauf kam, laut welcher kosmische Phänomene wie Schwerefelder effektiv nur mit nichteuklidischer Geometrie beschreibbar sind.
Es ist jedoch recht unwahrscheinlich, dass es irgendwo eine geheime Höhle gibt, in der man neun von zehn Tafeln Schokolade essen und trotzdem noch vier übrighaben kann. Und selbst wenn es sie gäbe, wären die Gesetze der Addition im Alltag außerhalb dieser Höhle (und etwaiger weiterer Orte, mit deren Entdeckung man fortan jederzeit rechnen müsste…) weiterhin praktische Arbeitshypothesen. So wie man als Statiker beim Planen von Bauwerken MIT dem Parallelaxiom arbeiten kann, Raumkrümmung nahe Schwarzen Löchern hin oder her. So wie Newtons Physik praktisch ist, solange es nicht um Lichtwellen geht und Einsteins Relativitätstheorie, solange es nicht um das gruselige Zeugs geht, mit dem sich die moderne Quantenphysik seit Niels Bohr befasst.

Der springende Punkt ist: auch Mathematik, auch Stochastik ist eine Arbeitshypothese; eine Metapher. In der uns bekannten Alltagsrealität ist es sinnvoll, sich in der zweiten Runde der dubiosen Ziegen-Gameshow umzuentscheiden. Falls Sie das Spiel nicht in einer nichteuklidischen Paralleldimension unendlich oft mit lovecraftschen Aliengöttern (z.B. Shub-Niggurath) spielen, können Sie sich darauf verlassen, 33,33…% öfter zu gewinnen, sofern Sie sich jedes Mal in der zweiten Runde umentscheiden. Am Nordpol müssen Sie mit Schweinefleisch nicht so aufpassen und wenn Sie grundlegende Überlebenskenntnisse (oder eine Donnerbüchse zum Verscheuchen etwaiger Wölfe respektive eine gewisse Vorsicht im Umgang mit Ihrer Großmutter) erworben haben, ist auch vertretbar, alleine in den Wald zu gehen. Für gewöhnlich lohnt es sich aber, auf die Stochastik und, unter den jeweiligen Umständen, wahlweise auf Koran oder Mikrobiologie oder auf das Märchenbuch zu hören. Sie sehen: Mathematik ist nur eine weitere Arbeitshypothese, ein Narrativ, eine Geschichte darüber, wie man die Welt betrachten sollte (nämlich so, als ob zwei plus zwei vier ist und der Wechsel der gewählten Tür in Runde zwei erfolgversprechend). Sie sehen aber auch, dass Mathematik weniger situativ ist als die Sache mit dem verderblichen Fleisch und dem bösen Wolf.
Manche Narrative sind (nochmals: situativ!) besser als andere. Kein Narrativ kann Anspruch darauf erheben, zweifellos wahr zu sein. Zu erkennen, dass Mathe ein Narrativ ist, bedeutet auch, zu erkennen, dass nicht alle Narrative gleich gut geeignet sind, um Antworten auf bestimmte Fragen zu liefern – bzw. auf gleich viele Fragen. Um zu entscheiden, wie ein rechtschaffenes Leben aussieht, mögen andere Narrative hilfreicher sein als Mathematik: allerdings wird es schwer sein, irgendein Narrativ zu finden, dass in den Bereichen, in denen es sich verwenden lässt, derart klare Antworten auf die gestellten Fragen liefert. Während andere Narrative – etwa, dass die Erde eine Scheibe sei oder dass man das mit dem Klimawandel nicht so ernst nehmen sollte, weil z.B. der Markt die Sache schon regeln wird, wenn man ihn lässt – dazu tendieren, den Blick zu trüben.

Auch explizit als solche deklarierte Narrative im Sinne künstlerischer Schöpfungen (wie etwa Romane oder Filme) sind nicht immer gleichwertig: sofern sich Kategorien finden, in denen man sie vergleichen kann. Mathe als Narrativ anzuerkennen, erlaubt in gewissem Rahmen, einen Maßstab zur Bewertung anhand dieser Kriterien anzusetzen. Dieser Maßstab ist Genauigkeit.
„Das Maß des künstlerischen Werts ist die Genauigkeit, und darin liegt pure Lust.“
Michael Haneke
Mathe als Narrativ anzuerkennen, bedeutet, die mehr oder minder phänomenologische Perspektive einzunehmen, dass alle Erkenntnisse über die Realität eigentlich Erkenntnisse über die menschliche Wahrnehmung derselben sind. Ein unterhaltsamer Actionfilm ist eine genaue Analyse dessen, auf welche Weise (das Beobachten) physische(r) Action unterhaltsam sein kann.
Kompliziert werden die Dinge dadurch, dass auch Ungenauigkeit ein Aspekt menschlicher Wahrnehmung ist, mit dem man sich ebenfalls (sozusagen meta-genau) beschäftigen kann. Auch kann ein gewisses Maß Ungenauigkeit in der eigenen Realitätswahrnehmung situativ durchaus praktisch sein: wenn man Motivation benötigt, um aus einer Lebenskrise konkreter oder weniger konkreter Art (eine Treibsandgrube, andauernde existenzielle Verzweiflung…) zu entkommen, mag es nicht unbedingt hilfreich sein, (stochastisch) über die eigenen Erfolgsaussichten nachzusinnen.

Mit eben dieser Art Erzählungen setzt sich mein Fachwerk Jenseits des Postmodernen: Die Geburt der Metatragödie auseinander. Letztlich sind solche Erzählungen eine logische Konsequenz des Ansatzes, auch Naturwissenschaften als Narrative einzustufen – und die Eignung von Narrativen umgekehrt an der jeweiligen Aufgabenstellung zu messen. Im weitesten Sinne ist dies die Kernidee jener Denkansätze (ihrerseits Narrative…), die unter den Sammelbegriff der „Metamoderne“ fallen. Möglichst genaue Metaphern für die verschiedenen Ausprägungen des Unbekannten, das man als solches akzeptiert: wie die Stochastik beim Ziegenproblem. Denken Sie also metamodern. Entscheiden Sie sich in Runde Zwei um. Zweifeln Sie ruhig daran – aber zweifeln Sie auch am Zweifel!
„Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit dies nur irgend möglich ist, nicht im Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntnis.“
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft
Robert Boehm, Leipzig, 19.01.2022. Letzte Revision am 23.01.2022.
Bildquellen: Pixabay.com
Sie sind hin und weg und möchten mir einen Kaffee spendieren? Investieren Sie doch lieber in ein wirklich nützliches Vorhaben wie MERA25, den Green New Deal (Infos zu beidem hier) oder den Pleistozän-Park (Infos hier ganz unten).