
Als geneigter Leser:in dieses Blogs ist Ihnen vielleicht das eine oder andere Nietzsche-Zitat über den Weg gekrochen. Möglicherweise verdrehen Sie jedes Mal die Augen und seufzen: „Ach! Das ist ja alles schön und gut, aber muss es denn wirklich immer der schnöde Schnauzer sein?“
Nein, natürlich nicht. Es gab ein Leben und Denken vor Nietzsche und (vermutlich) auch eins danach. Bloß, um es einmal vermerkt zu haben: vieles, was dieser Mensch von sich gegeben hat, kann man getrost als konfusen Unsinn abstempeln. Seine Autobiographie Ecce Homo gehört eventuell zu den jämmerlichsten Traktaten, die je verfasst wurde. Ja, auch darin finden sich ein oder zwei glorreiche Gedanken, aber ausführlich darzustellen, wie anstrengend es sei, nicht durch die Gegend spazieren zu können, ohne dass man von schmachtende Frauen belagert wird, die einen mit Trauben füttern möchten, weil man eben so grässlich schlau ist, ist dann doch etwas dick aufgetragen; spektakuläre Sprachgewalt hin oder her. Sein röhrender Minnesang auf die unerreichbare Cosima Wagner schlägt in dieselbe Kerbe. Die Selbst-Stilisierung als alter Soldat und die Lobpreisungen des Krieges als Charakterschmiede (zumal von jemandem, der seine Einberufung in den preußisch-österreichischen Krieg umgangen und später in Friedenszeiten ein Jahr lang eine preußische Kanone gehütet hat, bis ein Reitunfall ihn dafür ebenfalls disqualifizierte) sind teils schwer erträglich. Drei Wochen nach Abschluss des Buches ist er dann auch konsequent verrückt geworden: oben sehen Sie eine Photografie von mir neben dem bis heute gewissenhaft aufbewahrten Rollstuhl, in dem man den Umnachteten abschließend herumgerollt hat (2021 in den famosen Ausstellung „ICH HASSE DIE NATUR!“ der Klassikstiftung Weimar).
Gesetzte Intellektuelle, welche so wichtig sind, dass man sie in Kultursendungen und Talkshows einlädt, betonen teils gern, was für eine gefährliche Verlockung Nietzsches „Prosa“ auf sinnsuchende junge Kerle ausübe. „Jaja, schreiben konnte der schon, und jemand mit so vielen Doktortiteln wie ich kann natürlich differenzieren, aber die ungefestigten Gemüter sollten lieber erstmal Epikur und Goethe auswendig lernen, bevor sie am Ende noch anfangen, Nietzsche in ihrem jugendlichen Leichtsinn als einen Philosophen zu betrachten!“. Nun: hier geht es um Medientheorie und insofern ist Prosa als solche von Interesse. Dabei nicht zu vergessen: Nietzsche war auch Lyriker und wird als solcher meist völlig verkannt. Meist völlig zurecht.
Aber man kann die großen Thesen vor allem des späten Nietzsches (ob man sie nun richtig versteht oder nicht – sofern das überhaupt möglich ist) absolut ablehnen und trotzdem zu schätzen wissen, was er nebenbei z.B. über Mathematik geäußert hat. Wie auch immer: dieser „Blog“ widmet sich hauptsächlich Medienerzeugnissen eines bestimmten Schlags – und deren Abstammung kann allzu oft zum alten Friedrich zurückverfolgt werden. Natürlich auch zu anderen Ahnen, etwa hin zum Buddhismus, zum Film Noir… Jedoch lässt sich ein entscheidendes Segment (voll lebenswichtiger Organe) des im 19. Jahrhundert zu verortenden Larvenstadiums späteren existenziellen Denkens, Romanschreibens und Filemachens (westlicher Prägung) aus meiner Sicht etwa folgendermaßen auf eine Serviette bringen:
Da gab es Schopenhauer und nachdem er sich ausführlich zum Buddhismus belesen hatte, meinte er, man müsse nun echt den Kopf in den Sand stecken. Alsbald kam Nietzsche und genoss es, darüber nachzugrübeln. Dessen wurde er zehn Jahre nicht müde. Anschließend sprach er also: „Warum eigentlich“?
Sicher, vorab da war noch Kant am Start, um zu verlautbaren: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?“. Und hinterher war’s an Heidegger, das Offensichtliche zu ergänzen: „Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ‚seiend‘ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.“ Drauf folgend das Grand Hotel Abgrund. Und so weiter.
Gewiss doch, nicht zu vergessen den parallelen Strang mit Hegel, Karl Marx … besonders in Sachen Hegel fehlt mir unumwunden direkte Expertise. Somit kann ich hier bloß darauf verzichten, Slavoj Žižek zu zitieren.
Was Nietzsche dergestalt zitierfähig macht, ist, dass er hauptsächlich in Metapherform geschrieben hat. Sprich: vom initialen Kontext amputiert, sind Versatzstücke seiner Büchlein äußerst anschlussfähig. Dabei mag man ihm auch zugutehalten, dass er (wie im Wesentlichen viele seiner nahmhaften Zeitgenoss:innen) auf inflationär-elitäres Vokabel-Wettrüsten verzichtet – wie es allemal Teile der akademischen Philosophie jüngeren Datums kennzeichnet: unter dem Banner des genauen Ausdrucks lauert stets die Verlockung, dem Rausch eines Glasperlenspiels für Eingeweihte zu erliegen (Sie wissen schon, Hermann Hesse, nicht „das hier“). Besonders vorgeblich „linken“ Denker:innen, die sich ohne echte Notwendigkeit, im Allgemeinen, einer Wortwahl bedienen, die eigentlich nur für Leser:innen zugänglich ist, welche selbst Philosophie oder Vergleichbares studiert haben, haftet stets etwas Abgeschmacktes an: das Angebot zu intellektueller Selbstbefriedigung. „Was sind Sie schlau, liebe Leser:in, dass Sie auf Anhieb verstehen, was Adorno mit ‚Die perennierende Statusgesellschaft‘ meint! Wie, das wissen Sie nicht? Dann verkrümeln Sie sich wohl besser Richtung Privatfernsehen, Sie geistlose Prolet:in! Mit Ihnen haben wir echt den Beweis, dass manche eben doch zum Schuhputzen berufen sind! Bitte, legen Sie sofort mein Buch für Intelligente weg, tasten Sie sich erstmal vorsichtig an Micky Maus heran! Sie Volltrottel!“. Ja, gewiss, auch Nietzsche streut – als erklärtermaßen elitär eingestellter Tunichtgut – hier und da Latein oder Französisch ein: allerdings so unverholen, dass man sich kaum schämen kann („Nietzsche beherrschte mehr Fremdsprachen als ich? Schön für ihn. Selber schuld, wenn ich den Absatz überblättere.“). Um auf die hier besprochenen Body-Horror-Filme zurückzukommen: Nietzsche hat mehr mit Titane gemein als mit High Life: zwar muss man mit sich selbst ausmachen, was genau davon zu halten ist (oder ob etwas davon zu halten ist), dafür aber kann man das ggf. auch ohne fundierte geisteswissenschaftliche Vorbildung – bzw. die nötige Halbbildung, um jene effektvoll vorzutäuschen.
Zitiert werden in diesem unserem Ableger des Internets bevorzugt jene Passagen Nietzsches, in denen absoluter Fatalismus ein Sprungbrett für Lust am Leben bietet. Denn was bringt die Beschäftigung mit der (situativ) düstern Conditio Humana, wenn man sich nicht daran abstoßen kann? Wenn Sie mich fragen, liest sich z.B. Albert Camus‘ Denken dem folgend wie eine (völlig angebrachte, beinahe zwingende) Reduktion von Nietzsches Gedankenmonolith. „Was im Marmor schläft“ etc.
In diesem Sinne scheint mir das Vorkommen fraglicher Zitate in den Artikeln des „Blogs“ einigermaßen passend. Ob inflationär oder nicht: ein Inflationsziel ist als Richtwert zu verstehen und nicht als Obergrenze.
Unleugbar relevant ist Nietzsche damit fürs Denken der Metamoderne. Mein Fachwerk Jenseits des Postmodernen: Die Geburt der Metatragödie ist der Versuch, so etwas wie eine metamoderne Genretheorie zu umreißen – und dieser „Blog“ treibt schaukelnd irgendwo im Kielwasser des Unterfangens. Sehen Sie gespannt dem nächsten Artikel entgegen. Wohin das führen soll? Muss sich zeigen…
„Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.“
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches
Robert Boehm, Leipzig, 07.04.2022. Letzte Revision am 07.04.2022.
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